Venedigs Festland-Anker Mestre, heute der größte Stadtteil der Lagunen-Stadt, der sich trotz Eingemeindung im Jahr 1926 weiterhin als eigenständige Stadt aufdrängt, war hauptsächlich als Arbeiterstadt bekannt. Dazu trug zuvorderst der Bau des Hafen- und Industriegebiets Marghera Anfang des 20. Jahrhunderts bei. Öl, Metall und Schiffbau, aber auch die chemische Industrie siedelten sich an und sorgten nach einigen Boom-Jahren dafür, dass sich Mestre aufgrund industrieller Krisen nach enormem Wachstum rasant zur schrumpfenden Stadt entwickelte. Insbesondere der Tourismusboom der Mutterstadt sowie der Wandel Richtung Dienstleistungssektor veränderten Mestre. Ihrem baldigen Ruf als „Schlafstadt“ für Bewohner und Gäste Venedigs wirkten Administration und Bürgerschaft bemüht entgegen. Die Idee „Mestre 900“, ein Museum für Italiens Geschichte des 20. Jahrhunderts, wurde geboren.
Die neue Mitte für Mestre
Um die zentrale Piazza Ferretto und die Piazetta Matter herum, formiert sich heute neben Gastronomie und Hotellerie Mestres eigener kultureller Mittelpunkt. In direkter Anbindung, im Umgriff des Doms San Lorenzo, erwarb die Bankenstiftung Fondazione di Venezia 2005 einen Häuserblock mit alten Gebäuden. Die verwaiste, traditionell kulturelle Mitte Mestres sollte um ein Kulturquartier bereichert und um ein urbanes, soziales Zentrum erweitert werden. Das M9 wurde zum städtebaulichen Schlüsselprojekt, dessen Wettbewerb das Berliner Studio Sauerbruch Hutton im Jahr 2010 für sich entschied. Im Mix aus Bestand und Neubau entstanden die Pläne für das neue Museum M9, das als Herzstück des neuen Areals konzipiert wurde. Die Wiederbelebung und Erweiterung des alten Benediktinerklosters Convento Santa Maria delle Grazie aus dem 16. Jahrhundert verknüpft heute die Barock- und Renaissancebauten der Altstadt auf der einen Seite mit den gegenüberliegenden Neubauten der Nachkriegszeit. Der zentralen musealen Funktion wurden Räume für Coworking und Start-Ups sowie Büros und Shops hinzugefügt. Die Museumspiazza erschloss kulturell bespielbaren, öffentlichen Raum, insbesondere den originell überdachten Innenhof des einstigen Klosterareals. Gastronomische Flächen wurden angeschlossen.
Das M9 – die Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert
Das Museumsgebäude beherbergt ebenerdig öffentliche Funktionen wie Mediathek, Auditorium, Museumsshop und Café. In den Obergeschossen sind Veranstaltungsbereiche sowie Präsentationsflächen für Ausstellungen enthalten. Auf zwei Ebenen präsentiert das M9 die Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert als Dauerausstellung. Sie besticht als Museum zum Anfassen, mit 3-D-Erlebnissen, interaktiven Installationen und immersiven, spielerischen Ausstellungen durch einen hohen digitalen und zeitgemäßen Anteil der Kulturvermittlung. Sie erklären die Vergangenheit, helfen die Gegenwart zu verstehen und in die Zukunft zu blicken.
Im ersten Stock widmet sich die Ausstellung dem alltäglichen Leben, der Statur und den Gesichtern der Italiener:innen. Ihre Familien, sozialen und geschlechterspezifischen Rollen, ihre Wohnkultur, Technologien, Kleidung und Ernährung. Schließlich ihre Arbeit sowie den Wandel in Produktion und Wohlstand. Kleine Schritte wie große Veränderungen im sozialen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Gefüge Italiens werden in insgesamt acht Sektionen dekliniert:
Wie wir waren und sind
Die Geschichte Italiens des 20. Jahrhunderts wurde von den Menschen geschrieben, die dort lebten. Einleitend vermittelt das M9 demographisches, anthropometrisches und den sozialen Wandel der italienischen Gesellschaft. Mit „Schnappschüssen“ zieht das Museum einen Vergleich und hält Aufnahmen aus 1901, 1961 und 2011 nebeneinander. Die Italiener:innen sind mehr geworden und älter, sie leben in kleineren Familien, studieren länger, haben weniger anstrengende Jobs und sind größer, stärker und gesünder als ihre Vorfahren. Die ökonomischen und sozialen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts änderten ihr Leben vollumfänglich. Die meisten Italiener:innen haben Verwandte, die einst auszogen, um ein besseres Leben zu finden und kennen umgekehrt Einwanderer, die ihr Glück in Italien suchten. Die Halbinsel ist voller Geschichten von Zu- und Abwanderung. Bis im 20. Jahrhundert Migration zum Massenphänomen avancierte. Das M9 zeichnet die Karte dazu. Hält die Wanderungsbewegungen Italiens jenseits nationaler Grenzen fest und thematisiert die Ängste, Hoffnungen, Erwartungen und Erfolgsgeschichten dahinter. Es zeigt menschliche Erzählungen, Familiengeschichten und Generationenphänomene auf.
Die italienische Art zu leben
Was ist italienischer als die Küche? Sie ist zentrales Element in den Heimstätten
italienscher Familien und entsprechend gewichtig ist ihre technologische Entwicklung im Zuge des industriellen Fortschritts. An vier Beispielen verdeutlicht das M9 die Veränderungen anhand der Zeitachse und beleuchtet, wie sich die Menschen jeweils darin fühlten. Schließlich veranschaulicht eine Reise durch die Essgewohnheiten die veränderten Rahmenbedingungen und ihren Einfluss auf das italienische Leben. Dies alles ist vor allem auch eine Frage der Hygiene, deren Entwicklung viele Erkenntnisse verdeutlicht und den glücklichen Umstand gesteigerter Lebenserwartung unterstreicht. Darüber hinaus sind Textilwirtschaft, Kleidung und Mode und vor allem das italienische Design bedeutende und imageträchtige Träger des italienischen Fortschritts. Und auch der Wandel der italienischen Tierpopulation spricht Bände. Die hohe Anzahl an Nutztieren wurde längst von der Masse an Haustieren überflügelt, die innerhalb der italienischen Familie teils tragende Rollen einnehmen.
Der Wettbewerb um Fortschritt
Italiens Köpfe werden im internationalen Kontext dargestellt und so dient der Pioniergeist der Halbinsel der Einordnung in den internationalen und globalen Wettbewerb. Ein gut gewähltes Vokabular, um auch die strukturellen Errungenschaften des Landes, von der Energieversorgung bis zur Mobilität, aufzuzeigen, die für den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg eine zentrale Rolle spielen und zu der heute auch zwingend das Beleuchten ihrer Kehrseiten gehört.
Geld, Geld, Geld
Ökonomie, Arbeit, Produktion und Wohlstand. Das 20. Jahrhundert war für Italien ein gigantischer Schritt nach vorne. Die Revolution der Lebensstandards und -gewohnheiten wird im M9 anschaulich. Die Industrialisierung und ihre Geschichte bis heute, eine Geschichte der Transformation von der Landwirtschaft zur Industrienation, einschließlich einer rasanten Veränderung der Arbeitswelt sowie die Herausforderung der globalen Industrialisierung und der veränderten Wohlfahrt, einschließlich der Frage nach ihren Zukunftsaussichten.
Im zweiten Stock geht es um öffentlichen Raum und kollektive Räume. Darum wie die Landschaft sich verändert hat, um die Urbanisierung, um Politik, Institutionen und die Identität des Landes, um sein Schulwesen, seine Religion und das Konsumverhalten der Massen und Eliten.
Sehe dich um
Das 20. Jahrhundert veränderte viele Gewohnheiten und Traditionen, vor allem aber auch unsere Lebensräume und Umwelt. Hatten 1901 gerade einmal zehn Städte Italiens mehr als 100.000 Einwohner, sind es heute über 40. Die Städte sind enorm gewachsen. Die Landschaft hat sich verändert. Das M9 thematisiert Altstädte und ihre modernen Erweiterungen im Spagat von Glockentürmen, Wohnhäusern, Büros, Industriearchitektur und Shopping-Zentren mit einem Fokus auf Wohnen, Arbeit, Gewerbe, Industrie und Freizeitlandschaften. Und verweist auf große Aufforstungs- und Renaturierungsprojekte, die im Zuge dieser Entwicklungen erforderlich wurden. Das bedrohte, zerbrechliche System Umwelt wurde im 20. Jahrhundert zunehmend verstanden. Naturkatastrophen wie Überflutungen, Erdbeben und menschengemachte Umweltkatastrophen, wie die exzessive Nutzung der Böden, hydrogeologische Instabilitäten und Verschmutzung haben die Ökosysteme verändert und zerstört. Deutliche Marker für das nötige Umdenken im Sinne eines bewussten Umganges und einer Bewahrung der Natur, ihrer Ressourcen und unserer Gesundheit. Wasser wird zum zentralen Thema.
Der Staat
In diesem Teil des M9 ist vom Staat und seinen Institutionen die Rede. Darüber, wie der Staat Italien funktioniert und über die Spielregeln der italienischen Republik. Von Italiens Weg zur Demokratie. Und über die politische Arena, die im 20. Jahrhundert von Demonstrationen, Streiks und Paraden geprägt war, bis mehr und mehr die Medien und digitalen Kanäle in den Vordergrund gerieten.
Es geht um Identitäten im Reigen des internationalen Systems, um militärische Verantwortung, Partnerschaften, Verträge – um die internationalen Beziehungen und nationalen Problemfelder, beispielsweise die organisierte Kriminalität. Um den kalten Krieg. Um Italiens Rolle als Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaft, als Mitglied von NATO, UN, der OECD und der WTO. Italiens diplomatische Beziehungen bestehen heute zu knapp 200 Nationen weltweit.
Die Schmiede der italienischen Identität
Am Beispiel der Sprache zeigt sich die polyzentrische Identitätslandschaft Italiens deutlich. Italien ist ein Land der Dialekte. In 1861 sprachen nur vier von einhundert Italiener:innen italienisch. Noch 1951 bevorzugten sechs von zehn ihren Dialekt. In 1901 konnten sechs von zehn Italiener:innen nicht lesen oder schreiben. Das Schulsystem war deshalb ein wichtiger Meilenstein bei der Ausbildung der italienischen Sprache und Identität. Sie war also eine Frage der intentionalen Formung durch die Institutionen. Sämtliche gesellschaftliche Gruppen waren daran beteiligt: die politischen Parteien, die Handelsgesellschaften, die Kirchen, die Gewerkschaften sowie Publizisten und Medien. In dieser Abteilung wird verdeutlicht, welche Rolle Erziehung, Übung und Information bei der Absicht spielten, Italien italienisch zu machen.
Die italienische Identität
Was macht die Italiener:innen aus? Was stützt ihr Zugehörigkeitsgefühl zur nationalen Gemeinschaft? Worin erkennen Sie Ähnlichkeiten und Unterschiede zu ihren Nachbar:innen? Im letzten Block der Ausstellung finden sich Klischees, Stereotypen, Gewohnheiten, Benehmen, Redewendungen sowie Kultur. Allesamt als Ausdruck des originär Italienischen, das die Italiener:innen vom Rest der Welt unterscheidet. Die finale Sektion beleuchtet auf der Suche nach der italienischen Identität zahlreiche Aspekte, die Italiens Geschmack formten und Fragen beantworten wie: Welches Bild haben Italiener:innen von sich selbst? Wie haben sie sich im 20. Jahrhundert beschrieben und porträtiert? Was sind die Charakteristiken des „italienisch Seins“? Wo kommen die Vorurteile und Meinungen her, die dem italienischen Volk lokal, regional und international zugeordnet werden? Welche Namen tragen Italiener:innen? Und was sagt das über Italien aus?
M9 – wenn potente Form und gewichtiger Inhalt auf den idealen Standort treffen
Wer das M9 besucht, ist sensibilisiert für Italiens jüngste Geschichte. Und erkennt unschwer, dass an diesem Ort gleich mehrere glückliche Umstände zusammenlaufen. Eine findige Administration und eine potente Stiftung setzen mit einem gelungenen Wettbewerb eine neue Stadt(teil)mitte in das Herz von Mestre, dem größten Stadtteil Venedigs. Das Bauen – im Bestand und neu - verknüpft die Altstadt mit ihren zeitgenössischen Auswüchsen und lädt die Bevölkerung und ihre Gäste zur Neuentdeckung von Mestres Mitte, die als Kulturareal konzipiert und gelebt wird. Die museale Präsentation von Geschichte und Identität Italiens könnte kaum besser platziert sein als am stiefmütterlichen Rand einer der schönsten Städte der Welt – Venedigs. Die Standortwahl ist ein klares Bekenntnis und hervorragend geeignet Venedigs vergessenen Stadtteil auch für Besucher:innen attraktiv zu machen. Während die Einheimischen gleich mehrfach von ihrer neuen Mitte profitieren. Sie hüten stolz Italiens jüngste Geschichte und profitieren im Umgriff von weiteren Einrichtungen: Ein Auditorium für Konzerte, Theater und Kongress. Das reanimierte Kloster, der Konvent delle Grazie, wurde Heimat für Kultur und Innovation und als neuer Marktplatz gleichermaßen offener Treffpunkt wie Ort für Festivals, Konzerte und Kulturveranstaltungen. Und dann ist da noch das M9 für Kinder. Es ist ein interaktiver, multimedialer Raum für Schulen und Familien in dem innovative Vermittlungsangebote ausprobiert werden. Für Lehrer, Pädagogen und vor allem für Kinder zwischen vier und dreizehn Jahren. Im M9 Buchladen findet sich eine fein sortierte Auswahl an Büchern, Katalogen, limitierten Auflagen und Design-Objekten. Die Marina Bastianello Galerie, eröffnet 2012, ist Mestres professioneller Raum für zeitgenössische Kunst. Hier sind regelmäßig führende italienische und internationale Kunstpositionen zu sehen. Schließlich ist auch der FC Venezia-Laden im Kulturareal untergebracht.