Leonhard Kern und Europa.
Die Kaiserliche Schatzkammer Wien im Dialog mit der Sammlung Würth
veröffentlicht am 29.09.2021 | Lesezeit: ca. 3 Min. | von Ludwig Märthesheimer
Von den Habsburgern gegründet und zu unvergleichlicher Pracht ausgebaut, zählt die Wiener Kunst- und Schatzkammer zu den großartigsten Sammlungen ihrer Art weltweit. Einer ihrer Höhepunkte: die Skulpturen des Barock-Bildhauers Leonhard Kern (1588-1662). In der großen Ausstellung „Leonhard Kern und Europa“ thematisiert die Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall bis 28. November mit dem Kunsthistorischen Museum Wien und dem Hällisch-Fränkischen Museum Leonhard Kern als einen der bedeutendsten Künstler seiner Zeit. In Schwäbisch Hall lebte und arbeitete der Bildhauer von 1620 bis zu seinem Tod.
Verblüffend lebensnahe Figuren schuf Kern, handwerklich höchst virtuos, zeitlos modern. Die Schau vereint den Würth-Bestand der Werke Leonhard Kerns, darunter Wiederentdeckungen wie die Alabaster-Gruppe „Herakles und Hippolyte“ (um 1620) oder die erstmals seit 1935 wieder öffentlich zugängliche Elfenbein-Gruppe „Laokoon und seine Söhne“ (um 1620), mit herausragenden Leihgaben der Kaiserlichen Schatzkammer, etwa der Kreuzigungsgruppe „Christus und seine Schächer“ (um 1625). Dank weiterer hochkarätiger Leihgaben aus Wien kommen auch Hauptwerke anderer Gattungen nach Schwäbisch Hall, auf die sich Kern im Kontext seiner römischen Erfahrungen bewusst beziehen konnte. Denn erst der Vergleich mit den Lösungen der berühmten Vorbilder und Zeitgenossen lässt die spezifische Qualität und Originalität Kern‘scher Formfindungen in aller Deutlichkeit zu Tage treten. Zu sehen sind zum Beispiel die Reliefplastik „Die Grablegung Christi“ (um 1480) von Andrea Mantegna (1431-1506) oder der als Figura Serpentina ausgeführte „Raub einer Sabinerin“ (um 1600) von Giovanni Bologna (1529-1608). Für einen Dialog mit Moderne und Gegenwart der Sammlung Würth sorgen überraschende Gegenüberstelllungen mit Pablo Picasso, Georg Baselitz, Fernando Botero, Alfred Hrdlicka oder Victor Vasarely.
Die Ausstellung positioniert nicht nur die Stellung des Bildhauers in der europäischen Kunstgeschichte neu, sie verdeutlicht auch wie Gesellschaft und Kultur des 17. Jahrhunderts von europäischer Vielfalt und Austausch profitierten. Neugier und Reiselust sowie der Hunger nach einem möglichst vielstimmigen Konzert spannender Begegnungen prägten auch Leonhard Kerns Werdegang. Ungewöhnlich für seine Zeit, unternahm er von 1609 bis 1614 als junger Künstler weite Reisen nach Rom und Neapel, setzte wahrscheinlich sogar mit einem Segelschiff nach Nordafrika über. Die Auseinandersetzung mit künstlerischen Vorbildern der italienischen Renaissance und Barockkunst sowie der Antike prägte Kerns künstlerische Entwicklung. Sein beherzter Zugriff auf den „Laokoon“, das vermutlich meist bewunderte Kunstwerk der damaligen Welt, zeugt von großem künstlerischen Selbstvertrauen. Während die antiken griechischen Schöpfer die dramatische Szene nur mit einer Schauseite gestaltet hatten, verhalf ihr Kern zur Allansichtigkeit. Er war zudem kühn genug, die sich eindrucksvoll ausbreitende lebensgroße Gruppe auf den engen Raum eines Elefantenstoßzahns zu reduzieren und zeigt sich damit ganz auf der Höhe seiner Zeit.