„Wir tanzen nackt durchs Zimmer und sind uns selbst so nah wie selten. Wir trinken zu viel. Wir stürzen ab und sind danach richtig wütend auf uns. Wir wollen das Handy in die Ecke schmeißen, wenn wir wieder einen ganzen Abend auf Insta verscrollt haben..“ Wenn die bedruckten Papierblätter zu Boden fallen ist das sogar zu hören, so leise ist es hier im Sondermaschinenbau, hier auf dem Kontakt-Festival in den Hallen des Metalluk-Geländes. „Man war sich nicht sicher, ob das vielleicht die Erzählung einer eigenen Freundin war“, meint Lena Schmid, die jedem ausgesprochenen Wort aufmerksam gelauscht hat. „Ich habe mich selbst wiedererkannt, obwohl ich nicht mitgemacht habe“, erklärt Martha Niemeyer nachdem das letzte verlesene Blatt die Ornamente auf dem Teppich unter den Darstellern bedeckte, die der Autor, Journalist und Bildungsforscher Selmar Schülein in ein Experiment gelockt hat.
Genauer gesagt hat er das ganze Festival in ein Experiment radikaler Ehrlichkeit eingeladen. Von außen betrachtet hat sein moderner Beichtstuhl den Anschein einer Schultoilette aus den 80ern, aber der Schein trügt. Drinnen ist es auf der Seite des „Beichtwilligen“ zwar stockdunkel, aber die Atmosphäre umso angenehmer und menschlicher als vermutet. Auf der anderen Seite schreibt Schülein stundenlang mit, was ihm die Menschen anonym auf seine teils schwierigen Fragen nach intimen Erlebnissen erzählen. Es geht um Vergangenheit, Zukunft und alles dazwischen. „Ich musste für diese Menschen da sein und wollte nicht einfach ihre Erzählungen verwerten“, erklärt der Autor. Weitere Herausforderungen seien das parallele Aufschreiben und dann anschließende Verdichten in fünf eigenständige Ich-Erzählungen gewesen.
Der Beichtstuhl „habe geglüht“ wird Schülein vor Beginn der Performance sagen. 30 Seiten Notizen stehen nach fünf Stunden Gesprächen. Rund 20 Menschen haben dort Platz genommen, Gizem Biyik ist eine Teilnehmerin davon: „Ich fand es voll schön auch mal Fragen in die andere Richtung gestellt zu bekommen“, findet die Psychologin. Es seien Fragen mit Wucht dahinter, aber immer wertschätzend und wertfrei gestellt. Isabell Hanauer hält fest: „Es ist ein cooles Konzept, Sachen raushauen zu können ohne soziale Regeln.“ Und René Kröning lobt den ehrlichen Austausch und Dialog. „Ich würde es wieder machen, wenn da die gleiche Person säße.“
21 Uhr, jetzt kommt alles auf den Tisch, was sich da angestaut hat in den Gesprächen. Cornelia Morgenroth, Nicole Heinemann, Alexandra Kaganowska, Jakob Fischer und Andreas Ellner sprechen untermalt von Ludwig Berner am Kontrabass. Sie lesen von frisch auf der Bühne ausgedruckten Blättern, was man den Festivalbesuchern nicht auf den ersten Blick ansieht: Der Verlust der Heimat, Sorgen um die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch den Klimawandel, aber auch das Auseinanderklaffen von Familien im Verbund mit Missbrauch und Vergewaltigung. Impro-Schauspielerin Heinemann ist den Tränen nahe, als sie die verdichtete Erzählung einer Person ausspricht, die nach Malta reist um auf dem Rettungsschiff von Sea Watch mitzuhelfen: „Und 20 Stunden später finde ich mich neben einem 14-jährigen Mädchen wieder, das da auf dem Deck liegt, das ich gerade zu reanimieren versucht habe. Und als ich nicht mehr weiterkonnte, kam Ruben von der Seite angesprungen und hat weitergemacht. Aber dieses Mädchen hat nicht mehr zu atmen begonnen.“ Die Schauspielerin betont nachher: „Das Vortragen dieses Textes war eine krasse Selbsterfahrung.“
Im Chor sprechen die fünf Künstler zum Schluss: „Wir fragen uns, ob wir uns für das richtige Leben entschieden haben. Wir sind da. Und jetzt?“ Wenn der Abend eins gezeigt hat, dann, dass es gesellschaftlich mehr Möglichkeiten für Verständigung mit Tiefgang braucht.
Julian Megerle