Wo Oder und Spree, Neiße und Havel fließen, findet man das gewässerreichste Bundesland Deutschlands. Der Brandenburger, auch Märker genannt, ist weder Frohnatur noch Defätist. Er ist unaufgeregt und fügt sich puzzleartig in die Weiten der Landschaft ein, die mystisch und reizvoll daliegen. Im Potsdamer Umland lebt man nahe zweier Großstätte außerordentlich idyllisch und nachbarschaftsarm. Aber die Idylle ist manchmal trügerisch und schützt nicht vor Verbrechen. Toni Sanftleben, Havelländer und Hauptkommissar, ermittelt deshalb (trotz Beurlaubung) in einem neuen Fall. Diesmal geht es nicht um ihn und seine Frau, die nach 16 Jahren endlich wiederaufgetaucht ist, sondern um den spurlos verschwundenen Sohn seiner Potsdamer Staatsanwaltskollegin Caren Winter. Der pubertierende Alexander ist nach dem mysteriösen Tod seines Freundes Hendrik wie vom Erdboden verschluckt. Die Spur führt Sanftleben von der Sacrower Heilandskirche – entworfen von Schinkel-Schüler Ludwig Persius – zu den Beelitzer Heilstätten – früher legendäre Lungenheilanstalt, heute ruinöses Geisterareal mit enormer Strahlkraft auf Hollywood, Lost-Place-Fotografen, lichtscheues Volk und eben Jugendliche.
Tim Piepers Fortsetzung des ersten Havellandkrimis („Dunkle Havel“, 2015) ist sprachlich klar, sphärisch verdichtet und führt den Leser an abgelegene, fremde Orte im Brandenburger Hinterland. Ob Franke oder nicht, der literarische Ausflug in die ehemaligen preußischen Kernlande lohnt sich, weil Pieper nebenbei ein imposantes Landschaftsporträt entwirft. Seite für Seite blättert man sich durch den gut strukturierten Handlungsstrang, der verschiedene Fährten aufnimmt und dafür sorgt, dass man am Ball bleibt. „Kalte Havel“ ist, wie der Märker, unaufgeregt oder besser: unkompliziert, aber mit Nichten langweilig, sondern feine Krimiliteratur mit Regionalbezug, die es mit dem Sonntagskrimi aufnehmen kann.
Tim Pieper: Kalte Havel, Emons Verlag, Deutsch, 256 Seiten, € 10,90, ISBN: 978-3-7408-0001-7