„Ins Offene. Über Mut“, so lautete bis Mitte Februar das Motto für die 69. Internationale Orgelwoche Nürnberg, jenes traditionsreiche Festival für Geistliche Musik, das jetzt prägnanter den Namen „Musikfest ION“ trägt. Dann kamen virale Zeiten, doch das Motto behielt immer noch ein Körnchen Aktualität. Von „Übermut“ wird zwar keine Rede sein können, aber „über Mut“ darf man sprechen. Denn es gehört schon eine ganze Dosis Mut dazu, angesichts der pandemisch bedingten Einschränkungen das eigentlich für eine Absage fällige Festival mit einer neuen Konzeption und geradezu demonstrativem Durchhaltewillen durchzuziehen.
Oder, um es mit den Worten Moritz Puschkes, des Künstlerischen Leiters der ION, zu sagen: „Das ursprüngliche Motto INS OFFENE. ÜBER MUT hat mit Wucht eine neue Dringlichkeit bekommen. Deswegen ist unser Selbstverständnis und unser Auftrag, jetzt Wegbereiter für neue Wege der Programmentwicklung, für veränderte inhaltliche Reflexion und musikalische Praxis zu sein. Eine neue Erzählung soll über Krise, Absage, Distanz und Not hinausdenken und die belastende Gegenwart kreativ in intensive, hochklassige und immer auch wagemutige Musik überführen.“
„Nah bei Dir“ lautet nun das neue oder zumindest ergänzende Motto der diesjährigen ION. Für Moritz Puschke ist das ein „kraftvoller Versuch des Findens von Möglichkeiten, die in den kommenden Monaten und Jahren Eingang in die kulturelle Praxis“ bekommen sollten. Die ION will an ungewöhnlichen Orten auftauchen und auf Menschen zugehen, die die geplanten Veranstaltungen nicht im Netz verfolgen können. Das Programm soll offen sein und mit interaktiven Angeboten zur Teilhabe einladen. Zusammenbleiben lautet also ein weiteres Motto, zusammenbleiben nicht zuletzt in und für Nürnberg.
Es spricht also viel dafür, dass die Fallhöhe vom bzw. zum ursprünglich geplanten Programm nicht allzu hoch sein wird und sich die Enttäuschung über manche unvermeidlichen Ausfälle oder Änderungen in Grenzen hält. Dabei wurden die Erwartungen angesichts des Engagements von solch illustren Namen und Ensembles wie Christina Pluhar (mit ihrer „L’Arpeggiata“), Robin Johannsen, der Gaechinger Kantorei, dem lettischen Rundfunkchor, dem La Folia Barockorchester, dem Jazzquartett Masaa oder der Formation „Supersonus“ recht hoch gesteckt.
Gar nicht zu reden vom üppigen Begleitprogramm, von der eigentlich eröffnenden ION-Nacht, von den Vespern, dem Orgel-Wettbewerb, dem Zukunftslaboratorium „Nightflight“ u.v.a.m.. Das neu konzipierte Musikfest ION soll nun den Menschen ab dem 27. Juni Hoffnung spenden, indem es die immense Kraft der Musik und Kunst an neun Abenden in den Nürnberger Innenstadtkirchen vermittelt. Die Konzerte sollen „tagesaktuell, diskursiv, modular und ein Stück weit unvorhersehbar“ sein – und sie werden in Bild und Ton live übertragen. Es bleibt der Anspruch, die Musica Sacra in herausragenden Interpretationen darzustellen.
Viel Platz für Spontanes, Improvisiertes und Auszuprobierendes wird unter diesen stark veränderten Bedingungen des Gelingens eingeräumt. Moritz Puschke und der Dramaturg Oliver Geisler entwickeln Themen für jeden der neun Abende entlang der ursprünglichen Festivalplanung und laden dazu hochkarätige Musiker und Weggefährten der ION ein. Die beiden Festivalmacher begreifen „Nah bei Dir“ als einen „Möglichkeitsraum, in dem mittels Musik Nähe, Zuversicht und Hoffnung erzeugt werden können“. Die Isolation des „social distancing“ soll damit überwunden werden.
Viele Künstler haben sich für „Nah bei Dir“ spontan begeistern können und bereits jetzt ihre Mitwirkung zugesagt. Erwähnen wir nur die Organisten Martin Sturm, Mónica Melcova und Elina Albach, die Gambistinnen Lucile Boulanger, Hille und Marthe Perl, den Bassisten Matthias Winckhler, die Sopranistin Marie Luise Wernburg oder den Tenor Richard Resch. Freuen darf man sich auch über Katharina Bäuml mit der Capella de la Torre, das A-capella-Sextett „Slix“ und den originellen Obertongesang Anna-Maria Hefeles. Auf besondere Neugier dürfte stoßen, welche Töne Lee Santana der Laute und Philipp Lamprecht dem Schlagwerk zu entlocken vermögen.
Doch das ist noch lange nicht alles, denn die Entwicklung von „Nah bei Dir“ setzt darauf, dass in den kommenden Wochen weitere Künstler hinzustoßen werden, die sich von den besonderen Konditionen dieses 69. Musikfestes ION inspirieren lassen. Nürnbergs Kulturreferentin Julia Lehner meinte dazu: „Für mich ist diese alternative ION eine Herzensangelegenheit. Es macht Mut, dass Wege gefunden wurden, nicht zu verstummen, dass Bündnisse zwischen Förderern und Kreativen gefunden werden. Gleich unter welchen Bedingungen es zu Aufführungen kommt oder Formate realisiert werden können – ich freue mich, dass … „Nah bei Dir“ als persönliche Einladung zur Begegnung mit Musik und Kunst“ verstanden werden darf.
Aus dem ursprünglich vorgesehenen Programm gestrichen werden mussten der Orgelwettbewerb, das Schulprojekt „SingBeethoven“ und die Orgelführungen im Rahmen des Orgel-Schulprojekts, außerdem leider auch die ION-Nacht, die in den vergangenen Jahren für eine wertvolle Symbiose aus anspruchsvollen Musikdarbietungen und dem Flair abendlichen Einkaufsbummels in der Nürnberger Innenstadt garantieren konnte. Doch die neuen Formate werden sicherlich für bislang ungesehene und ungehörte (vielleicht auch unerhörte!) Überraschungen sorgen und diese ION zu einem Festival der Innovation machen.
Über die aktuellsten Entwicklungen und den Ausblick auf die Zukunft der ION haben wir mit Moritz Puschke ein Kurzinterview geführt:
MP: Aufgrund der aktuellen und unbefriedigenden Verordnungen des Freistaats Bayern, Konzerte mit max. 50 Personen im Innenbereich und max. 100 Personen im Außenbereich veranstalten zu dürfen, können wir leider kein Publikum einlassen, außer, wenn möglich, am letzten Abend. Da möchten wir mit der Vocalband Slixs das Festival unter freiem Himmel beschließen.
Der Aufwand ist so enorm hoch und am Ende kommt doch kein Konzertgefühl auf, wenn in einer großen Hallenkirche 50 Menschen isoliert voneinander sitzen, ohne wirklichen Kontakt zu den Künstlern – das entspricht nicht meiner Vorstellung von einer Konzerterfahrung; zudem – um mal aus dem Innenleben von Kulturschaffenden aktuell zu plaudern: Konzerte mit max. 50 Zuschauern sind unwirtschaftlich, praxisfern und verschlimmern die ohnehin angespannte finanzielle Situation der Veranstalter. Die zu Konzerten zugelassene Personenzahl muss im Verhältnis zu Raumgröße, Fläche und der Wahrung der Abstände stehen, wie in anderen Bundesländern sowie der Schweiz und Österreich.
MP: Seit ich hier in Nürnberg angekommen bin, spüre ich einen besonderen Nürnberger Geist und einen enormen Stolz auf das organisch in die Stadtgesellschaft hineingewachsene Musikfest ION und wir erleben ja jetzt schon sehr viel Unterstützung, Zuspruch und auch rührende Fürsorge. Darüber freue ich mich sehr und ich empfinde es als Ansporn und Auftrag, nicht zu verstummen!
Aber für 2021, 22 und all die kommenden Jahre habe ich mit Blick auf die deutsche Musikszene schon Sorgen, dass alles Denken einem wirtschaftlichem Imperativ untergeordnet wird; dabei ist doch die Kultur- und Kreativwirtschaft, wenn man schon so denkt, auch ein wichtiger Wirtschaftszweig.
Sie merken, ich könnte mich heiß reden, angesichts der aus meiner Sicht falschen Schwerpunktsetzung in unserem Leben, mal ganz global gesehen; in der Schule geht es nur noch um die sog. MINT-Fächer, das binäre 1-0-Denken der Programmierung hält überall Einzug und disponiert unsere Psyche neu; aber die Welt ist nicht 1-0, auch unser Zusammenleben, unsere Welterfahrung lebt von Widersprüchen, Zwischentönen, von wildem Denken ins Offene, von Mut, Scheitern... Die Corona-Krise legt, um es mal global zu sagen, offen, dass wir aus meiner Sicht seit Jahren in die falsche Richtung rennen – und zwar mit zu hohem Tempo, eindimensional und gefährlich. Wie viel schöner sind verschlungene Pfade, herausfordernde Kreuzungen, Irrwege, Sackgassen oder das Laufen querfeldein!
MP: Auch wir als ION-Team sind natürlich mit Wucht von der Pandemie überrannt worden. Aber wir haben, zusammen mit unseren Förderern, sofort nach einem Weg gesucht, die Situation anzunehmen und für die Künstler und für unser Publikum etwas neues zu schaffen; ja, aus der Not, aber mit Bedacht und so, dass wir Erfahrungen sammeln für Kolleginnen und Kollegen, für die Zukunft.
Wir stehen da am Anfang und das Digitale kann niemals das auratische, analoge Liveerlebnis ersetzen; die Potentiale des Digitalen müssen ganz eigenständig sein – da steckt viel Potential drin!
MP: Das habe ich ja schon bisschen beantwortet. Das Musikfest ION (nicht Orgelwochen) wird verändert aus dem Jahr 2020 hervorgehen, wobei ja keineswegs sicher ist, dass nicht auch das Festival 21 noch von der Pandemie beeinträchtigt ist. Wir werden künftig sicherlich stärker als bisher ein Musikfest als einen Knotenpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung begreifen, wo viele Stränge zusammenfinden; Konzerte in Kirchen, Vermittlung, digitale Formate … der Nürnberger Geist wird all diese Bereiche durchwehen!