Seit der letzten Hamlet -Inszenierung des Bamberger Theaters stellt sich hier wie andernorts die Frage, wieviel Originaltext man bei Shakespeares-Aufführungen beibehält bzw. den eigenen eingeschobenen Ideen opfert. Beim erwähnten Hamlet war nicht mehr sehr viel davon übrig, bei der jetzt für die Calderón-Festspiele eingerichteten Version von Romeo und Julia immerhin so viel, dass jeder die Geschichte auch ohne Vorkenntnisse verstand. Sie ist ja auch simpel genug: zwei verfeindete Sippen in Verona, zwei sich liebende Sprösslinge, die verzweifelt die antagonistischen Familienverhältnisse überwinden wollen, und weiteres Personal, das am Schicksalsfaden mitweben will.
Das Ganze nimmt ein gutes Ende, allerdings nicht für die Protagonisten, die am Schluss tot auf den Planken liegen. Doch bei Shakespeare gibt es so etwas wie eine Moral von der Geschicht, denn die beiden Sippenchefs sehen nach allerlei Gemetzel ein, wie sinnlos ihre Feindschaft war und versöhnen sich. „O Bruder Montague, gib mir die Hand“ sagt Julias Vater Capulet und beklagt die „armen Opfer unsrer Zwistigkeiten“. Montague, Romeos Vater, will gar das Bildnis der Julia „in klarem Golde fassen“.
Diesen Dramenschluss verwehrt die Bearbeitung von Matthias Köhler dem Bamberger Pubilkum, mehr noch: die Clanchefs sind gar nicht mit von der Partie. Dafür gibt es diverse Intermezzi, unterlegt von wummernden Klängen, die insbesondere von den virtuosen Einlagen des Duos Benvolio (Daniel Dietrich) und Mercutio (Nicolas Streit) geprägt werden. Die stehen auch gleich zu Beginn im Zentrum einer Vorstadtrauferei, die wie die aktualisierte Ausgabe einer Abrechnung zwischen rivalisierenden Clangruppen wirkt.
Wenn Romeo (Leon Tölle) erstmals auftaucht, deutet sich ein von Queerness inspiriertes Gesten- und Bewegungsrepertoire an, das von den anderen Mitspielern aufgenommen wird und einen metrosexuellen Touch andeutet. Freilich wird das nicht übertrieben, sondern liest sich als kleine zeitgeistige Konzession. Die Julia Antonia Bockelmanns scheint dagegen voll dem Rollenklischee einer naiv Liebenden zu entsprechen. Chronisch aufgeregt flitzt sie über die monumentale Treppenbühne hinauf und hinab.
Eric Wehlan stellt mit seiner gewohnt coolen Souveränität einen ersatzväterlichen Bruder Lorenzo dar, Philine Bührer macht aus der Chefin der Capulet-Dynastie eine glaziale Lady, und Oliver Niemeier fügt sich so perfekt wie unmerklich in die Doppelrolle als Tybalt-Bösewicht und Graf-Paris-Charmeur. Iris Hochberger, ebenfalls doppelt berollt, darf den Prinzen von Verona als kühlen Weisen spielen und als Amme dem Liebespaar genügend Verständnis und Wärme spendieren.
Die Inszenierung lebt von der Rasanz der Personenführung rund um die mittig platzierte Kopie der Amor-und-Psyche-Plastik Auguste Rodins. Ran Chai Bar-Zvi hat nicht nur eine kühn in die Höhe schießende Stufenbühne ins reizvolle Hofambiente gestellt, sondern auch die originelle textile Ausstattung erfunden. Die wirkt beim Fußvolk mit den brünneartigen Brustpanzern recht soldatisch, doch der Adel sieht hinreichend schick aus.
Befremdlich wirken diverse sprachliche Anbiederungen à la „Verpiss dich“ oder „F… dich“. Für wie einfältig halten die Textmacher eigentlich das junge Publikum, dass es mit solchen Vulgarismen geködert werden soll? Ärgerlich ist auch das zwanghafte und recht sinnfreie Soundesign – die Urheber solchen Spektakels scheinen sich im akustischen Dauerdelirium zu befinden. Diese Einschränkungen mindern freilich nicht den Gesamteindruck von einem ideenreichen und schauspielerisch fulminanten Abend. Fazit: unbedingt hingehen!