Vor etwas über einem Jahr sind wir zusammengekommen, sechs unterschiedliche Theatermenschen aus Bayern mit der verantwortungsvollen Aufgabe, gemeinsam die Programmauswahl für die Bayerischen Theatertage 2024 in Ingolstadt zu treffen: Andrea Maria Erl, Regisseurin und Leiterin des Theaters Mummpitz, ein Theater für junges Publikum in Nürnberg, Christoph Leipold, Theaterkritiker beim Bayerischen Rundfunk, Ingrid Trobitz, stellvertretende Intendantin des Münchner Residenztheaters, Gabriele Rebholz, Dramaturgin am Theater Ingolstadt, Thomas Schwarzer, Referent des Deutschen Bühnenvereins Landesverband Bayern und ich, Friederike Engel, Dramaturgin und künstlerische Leiterin der Nürnberger Tafelhalle, einem Haus der freien Musik-, Tanz und Theaterszene. Unsere Perspektiven erst einmal gut gemischt vom dramaturgischen über den journalistischen Blick, vom Schwerpunkt im Kinder- und Jugendtheater, über die freie Szene bis hin zur strukturellen Expertise für den gesamten bayerischen Theaterraum. Christoph Leipold und ich waren bereits in der Jury für die letzten Theatertage 2022 in Bamberg, deren Genese teilweise noch sehr durch die Ausläufer der Coronapandemie geprägt und für die die Auswahl alles andere als einfach war. Unsere Hoffnung: Für 2024 etwas mehr Sinnlichkeit und Mut zu finden, nichts Halbgares, schmal Besetztes, was notfalls an irgendwelche Infektionsschutzmaßnahmen angepasst werden konnte.
Das Vorgehen
Und so ging die Ausschreibung raus, mit dem Ziel, das Beste aus Bayerns Theatern zu finden – herausragende künstlerische Leistungen, überzeugende thematische Herangehensweisen, außergewöhnliche Ästhetiken, Unterhaltsames wie Kritisches. Auf den Open Call der Theatertage können sich immer alle im Deutschen Bühnen Verein organisierten Landes-, Stadt-, Staats- und Privattheater Bayerns, ebenso wie Vertreter:innen der freien Szene bewerben. Über siebzig Stücke standen ab Frühsommer 2023 auf unserer Sichtungsliste. Für ein 18- tägiges Festival am Theater Ingolstadt, einem Theater, das über vier Spielstätten verfügt, musste das Bewerbungsfeld bis Ende des Jahres also auf ca. 25 (es sind 27 geworden) eingedampft werden. Von nun an fuhren wir kreuz und quer durch den Freistaat, trotzten Wintereinbrüchen, Bahnstreiks, zahlreichen Absagen wegen Erkrankungen im Ensemble und schafften es, das meiste live zu sichten und nicht auf die Videoaufzeichnungen zurückgreifen zu müssen. Der Livecharakter ist im Theater schließlich entscheidend. Da alle Jurymitglieder an unterschiedlichen Orten in Bayern leben, wurden nur wenige Treffen in großer Runde in Ingolstadt vereinbart, dazwischen arbeiteten wir mit einer Sichtungstabelle und tauschten uns digital meist via E-Mail aus. Als grundlegendes Prinzip vereinbarten wir, dass jede eingereichte Produktion von mindestens zwei Vertreter:innen der Jury gesehen werden musste, im Streitfall, dann noch eine dritte Meinung eingeholt werden sollte. Für die grobe Orientierung wurden im Anschluss an jeden Vorstellungsbesuch von jedem Sichtenden Buchstabenwertungen vergeben: A = „unbedingt einladen“, B = „kann gut eingeladen werden, muss aber nicht unbedingt dabei sein“, C= „eigentlich nicht, wäre aber diskussionsbereit und bin gespannt auf andere Sichtweisen“, D = „nicht einladen“. Außerdem hat jede:r Juror:in nach der Sichtung eine Bewertungsnotiz für sich verfasst. Bei den gemeinsamen Treffen wurden dann immer alle Produktionen besprochen und diskutiert, auch wenn sie bereits von mehreren Juror:innen mit D bewertet worden waren: Ohne Diskussion wurde nichts aussortiert. Aber worauf wurde nun insbesondere geachtet?
Die Auswahl
Auf jeden Fall ist wichtig zu betonen, Knut Weber hat dies im Leitartikel schon angedeutet, dass die Bayerischen Theatertage ein Inszenierungs-Festival sind. Es geht also entgegen eines Festivals wie zum Beispiel den Mülheimer Theatertagen oder dem Heidelberger Stückemarkt nicht zentral um Texte und Autor:innen. Für uns galt es mehr auf die Gesamtästhetik, auf Regie, Ausstattung und Spiel zu achten. Natürlich lässt sich ein starker Text auch nicht ausblenden, aber das „gute Stück“ stand nicht im Fokus unserer Auswahl. Wir suchten nach den besten Inszenierungen 2022-2024 in Bayern. Nach dem was auffällt. Das konnten außergewöhnliche Mittel, darstellerische Leistungen, Lesarten auf Stoffe und vieles mehr sein. Die Theatertage haben kein Motto, das heißt um die Passgenauigkeit inhaltlicher Themen ging es bei der Auswahl auch nicht zentral. Dennoch arbeiten die meisten Theaterschaffenden an Gegenwartsthemen, die sich somit auch in der Endauswahl spiegeln. Und ja, wenn die Entscheidung zwischen zwei Produktionen eng war, wurde dem thematisch brisanteren Abend oder einer Produktion, die mit einer anderen Arbeit in Resonanz stand, durchaus der Vorzug gegeben. So ist beispielsweise, natürlich auch den Zeitgeschehnissen Rechnung tragend, mit „Das Tagebuch der Anne Frank“, „Die weiße Rose“ und „Draußen vor der Tür“ ein kleiner Binnenschwerpunkt zur Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Krieg entstanden. Man muss auf sehr vieles achten in so einem Auswahlgremium. Wenn ich privat ins Theater gehe – so es die private Theaterbesucherin Friederike Engel neben der professionellen noch gibt – versuche ich bei mir zu sein und bei dem, was ein Abend mit mir macht, intellektuell und vor allem emotional. Da sind mir ästhetische Standards und Vergleiche erst einmal egal. Es geht darum, dass es mir und zwar nur mir „gefällt“. Aber das muss ja nicht zwingend zu den bayerischen Theatertagen eingeladen werden – Überschneidungen natürlich nicht ausgeschlossen. Wenn man als Jurymitglied in der Vorstellung sitzt, versucht man eine möglichst objektive Perspektive einzunehmen, stellvertretend für ein größeres interessiertes Publikum, auch ein Fachpublikum und man hat zudem auch viele pragmatische Kriterien im Kopf, wie mögliche Spielorte in Ingolstadt und eben auch die Vergleiche mit den anderen Produktionen, die man schon gesichtet hat. Man schaut in manchen Punkten auch strategisch für das gesamte Festival, das natürlich auch für ein breites Publikum funktionieren soll. Haben wir schon einen Klassiker? Ist etwas von den großen Häusern aus München dabei? Haben wir genug für die große Bühne? Diese Fragen haben in der Auswahl ebenso ihre Berechtigung wie Fachurteile über Regiehandschriften und darstellerische Leistungen. Wichtig war, sich der unterschiedlichen Perspektiven, die man vereint, immer bewusst zu sein und sie gekonnt in einer vielschichtigen Auswahl zu bündeln. Wir und ich denke, ich kann hier uneingeschränkt für meine Kolleg:innen sprechen, haben diese Aufgabe sehr ernst genommen und herausgekommen ist ein rundes Programm, das sowohl den State of the Art des Gegenwartstheaters in Bayern repräsentieren, als auch das Publikum begeistern kann. Von Klassikern über Wiederentdeckungen, Musik, Tanz, junges Theater ist eine große Bandbreite von darstellender Kunst zu erleben und auch wenn es kein direktes Kriterium war: die eingeladenen Produktionen sind wirklich aus ganz Bayern – aus den Zentren und aus der Fläche. Ein Besuch in Ingolstadt vom 29. Mai bis zum 16. Juni ist in jedem Fall lohnenswert!