Es hat in der deutschsprachigen Musiktheaterwelt lange gedauert, bis die genialen Schöpfungen des englischen Duos Arthur Sullivan/William Gilbert endlich zur Kenntnis genommen wurden und seit einiger Zeit auch die Begeisterung entfachen dürfen, die sie verdient haben. Ob's am selbstironischen britischen Humor liegt?
Sei's wie es sei, die bayerischen Staatstheater beteiligen sich neuerdings intensiv an der Neu- bzw. Wiederentdeckung jener Operetten von Sullivan/Gilbert aus den Jahren 1871 bis 1896, die im angloamerikanischen Raum zu Welterfolgen wurden, jedoch die europäische Fixierung auf die Strauß/Offenbach/Léhar-Tradition und entsprechenden Gewohnheiten nie aufzuweichen vermochten. Die Staatsoper Nürnberg hatte unlängst das Meisterwerk „Die Piraten von Penzance“ auf die Bühne gebracht. Nun folgte das Staatstheater am Gärtnerplatz damit – und wie!
Der Plot handelt von einem bis zur Absurdität getriebenen Pflichtbewusstsein, von höchst moralischen Seeräubern und am Schluss natürlich auch von der Liebe. Frederic hatte sich als Kind auf eine Lehrzeit bei Piraten einlassen müssen, weil sein Kindermädchen Ruth die Ausbildungsstätten verwechselte: Statt bei „Privaten“ ging es um eine Lehre bei „Piraten“. Das ist übrigens eine pfiffige Übersetzung des englischen Originals, wo es um „pilotes“ und „pirates“ ging.
Nun ist Frederic aber volljährig und lässt sich von seinen diebischen Lehrmeistern feiern. Die Vorfreude auf ein fortan ehrbares Leben währt jedoch nicht lange, denn plötzlich stellt sich heraus, dass er am 29. Februar geboren ist und daher erst fünf Lenze zählt. Mithin kann seine Entlassung aus der Piratenausbildung erst mit 84 Jahren erfolgen – ein fatales Schaltjahresdilemma.
Trotz frisch entfachter Liebe zu dem Mündelmädchen Mabel bleibt er vertragstreu und wechselt zurück ins Lager der Freibeuter, die freilich eine für ihr Milieu geradezu groteske Angewohnheit auszeichnet: Sie lassen grundsätzlich die Waisen unter ihren Opfern ungeschoren davonkommen. Diese erstaunliche Menschenfreundlichkeit spricht sich natürlich herum, und so wächst die Zahl der vorgeblichen Waisen in der Gegend um das Fischerdorf Penzance unaufhörlich.
Auch ein britischer Generalmajor versucht mit Hilfe dieser Masche, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er hat eine ganze Reihe von Mündeln im Gefolge, die später zur perfekten Brautschau für die Piraten mutieren werden. Wer das merkwürdige englische Adoptionsrecht der damaligen Zeit kennt, wird hier übrigens eine sozialkritische Anspielung diagnostizieren. Das unvermeidliche Happy End fällt reichlich aschenputtelig aus: die Piraten entpuppen sich als geborene Aristokraten.
Die Inszenierung dieser „Comic Opera“ demonstrierte ebenso wie die Darbietung am Premierenabend, über welch famoses Ensemble das Staatstheater am Gärtnerplatz verfügt. Karl Fehringer und Judith Leikauf haben naheliegenderweise ein Piratenschiff auf die Bühne gestellt, jedoch schon mit einer originellen Eingangsidee auf das Geschehen vorbereitet: Das Publikum darf durch ein Bullauge auf eine Seeschlacht en miniature blicken – sozusagen Schiffe versenken als Puppenspiel. Später, wenn es ironiegetränkt darum geht, „als Helden in den Tod zu marschieren“, leuchtet fahl der Mondschein über den Gräbern der Vorfahren.
Als die Entscheidungsschlacht zwischen Piraten und Polizei ansteht, verstecken sich letztere hinter Buchsbäumen. Das ist so feige wie gut, denn sonst hätte die Ordnungsmacht ja gegen Lords kämpfen müssen. Die englische Oberschicht ist am Ende auch noch durch die Queen vertreten, die jedoch bald per Klappstuhl mitsamt ihrer Corgies in den Bühnenuntergrund befördert wird. Man könnte noch viele originelle Ideen der Inszenierung von Adam Cooper beschreiben, was hier allerdings zu akuter Platznot führen würde. Erwähnen wir noch, dass er als professioneller Tänzer zudem eine rasante Choreografie erfunden hat, die das agile Ensemble pausenlos fordert.
Das Schöne an dieser überaus einfallsreichen Inszenierung ist, dass platte Gecks nicht vorkommen, sondern der Witz stets anspielungsreich und hintergründig bleibt – very british eben. Dem werden die Protagonisten auf charmante Weise gerecht, und nicht nur die. Alexander Franzen muss als Generalmajor aberwitzige Schnellsprech-Arien meistern, wie man sie sonst nur von Mozart und Rossini kennt. Daniel Gutmann als Piratenkönig brilliert als Akrobat ebenso wie mit seiner markanten Stimme.
Matteo Ivan Rašić als Piratenlehrling Frederic erobert tenorale Höhen, und Julia Sturzlbaum verzückt als seine Geliebte Mabel nicht nur durch ihren verführerischen Sopran, sondern ebenso durch ihre Offensivwaffe, einen unnachahmlichen Augenaufschlag. Als in die Jahre gekommenes „Piratenmädchen für Alles“ muss sich Sigrid Hauser duldsam verspotten lassen, während Holger Ohlmann den einfältigen Polizeisergeanten mimt.
Einmal mehr lässt sich am Gärtnerplatz darüber staunen, welch komplette Künstlerschaft für das Operettenfach erforderlich ist. Schauspielern, singen, tanzen und vielleicht auch noch auf der Bühne zu einem Instrument greifen, dass alles muss beherrschen, wer mit dieser vermeintlich „leichten Kunst“ reüssieren will. Wenn dann noch das beherzte Musizieren des Hausorchesters – unter dem inspirierendem Dirigat Anthony Bramalls – hinzukommt, wankt man ebenso benommen wie glücklich aus dem Opernhaus. Der enthusiastische Applaus am Premierenabend lässt befürchten, dass es schwierig werden könnte, für dieses famose Spektakel Karten zu ergattern.