Der Titel – unverdächtig. Tendenz zur Neugier. Das Buch – durchdacht von Anfang bis Ende. Martin Beyer zeichnet ihn vielschichtig, seinen Roman, zieht einen Kreis neben dem anderen, lässt sie überlappen, verdichtet und malt sie aus und kommt immer wieder zum Anfang und zum Ende. Wie eine Matrjoschka, in textlicher Farbenpracht schichtet Beyer Geschichten, in der Geschichte, gibt den Figuren enge Bezüge, die sich einmal anbahnen, einmal auflösen, einmal einfach da sind und schließlich ihr Ende finden. Geschichte rein, Geschichte raus, halt! Zu klein für den Rahmen. Kommando zurück. Beyers Spiel mit der Form ist verwirrend, doch fesselnd und folgt, bei genauem Hinsehen, einer klug gewählten Dramaturgie. Die er ständig frech und weise unterbricht mit Mikrokosmen, Aphorismen fürs Leben gleich, die jede für sich das Buch einmal mehr unendlich bereichern. Wenn er eine Playlist präsentiert, mit Musiktiteln, die er wie Perlenstaub in das Buch, in die Geschichte hineingelegt hat, zeigt das exemplarisch diese seltene wie wunderbare Eigenart seines Ductus.
Dazu der Inhalt. Längst überfällig - jenseits des Puls der Zeit - verarbeitet der Autor zusammenhängende Frauenschicksale, als kommentiere er das ein oder andere Kapitel einer Gender Studies-Enzyklopädie. „Hatten diese Frauen die Wahl?“ hört man Beyer fragen. Und die Antwort kommt prompt. In mitreißende wie vielschichtige Details gekleidet, in poetischem Lesefluss. Dürfen diese Themen tatsächlich so Spaß machen? Solange der Ernst dahinter so sorgsam und deutlich vermittelt wird, sicher. Und eben dies und noch viel mehr leistet der Roman. Neffe, Tante, Mutter, Mann und abermals Mutter. Bei Beyer schleichen alle wohlwollend spielerisch um sich, trotz der Schwere ihrer Verhältnisse und Lebenslagen. Ein Roman ohne Bösewicht, doch mit Fingerzeig auf andere, mehr oder eben auch weniger überwundene Zeiten, auf die Aktualität alter Themen. Dazwischen immer wieder die Kunst – sie hilft. Und in diesem Roman lebt sie weiter, denn das Ende der Kunst ist inakzeptabel. Allein für diese geheime Botschaft – und derer gibt es viele in diesem wunderbaren Roman – ist er lesenswert: Moralische Erziehung durch Kunst und Empathie!
Martin Beyer: Tante Helene und das Buch der Kreise, Ullstein Hardcover, 1. Auflage 2022, 416 Seiten, 23,00 Euro, ISBN 978-3550201356.