Friedrich Dürrenmatt, Tankred Dorst, Martin Walser, Herta Müller oder auch Y?ko Tawada, wem würde es nicht gefallen, sich in diese Phalanx von Preisträgerinnen und Preisträgern (die vollständige Liste ist viel länger und nicht weniger illuster) einzureihen. Das kann man natürlich nicht selbst machen, sondern wird dazu bestimmt, von einer Jury wie derjenigen, die alljährlich die Carl-Zuckmayer-Medaille verleiht. Und 2021 hat sich dieses Gremium für die Bamberger Lyrikerin Nora Gomringer entschieden. Sie wird damit die 44. Trägerin dieses prestigeträchtigen, deutschen Literaturpreises, der alljährlich am 18. Januar, dem Todestag Carl Zuckmayers, verliehen wird.
„Die vielseitig begabte Künstlerin ist eine der großen Sprachartistinnen unserer Zeit. Phantasievoll, kreativ und sich immer wieder neu entdeckend, hat sie die Literaturszene der Gegenwart beeinflusst. In ihren Gedichten und Essays, im Poetry-Slam wie im lyrischen Experiment ist ihre unverwechselbare Stimme zu hören, die von großartigem Sprachvermögen zeugt“.
Bevor Ministerpräsidentin Malu Dreyer am 5. Oktober 2020 ihre Entscheidung begründete (siehe Zitat oben), machte ihr eine Fachjury selbstredend einen entsprechenden Vorschlag. Und diese Begründung wird Nora Gomringer vermutlich auch noch mal am Tag der Preisverleihung im Mainzer Staatstheater hören, wenn man ihr die vom Pfälzer Künstler Otto Kallenbach gestaltete Medaille nebst einem 30-Liter-Fass mit Nackenheimer Wein überreicht. Vorausgesetzt, die Covid-19-Regulierungen lassen zu diesem Zeitpunkt einen derartigen Festakt zu.
Gomringer, deren lyrischer Startschuss wohl im Jahr 2000 mit der Veröffentlichung eines Gedichtbandes im Eigenverlag begann und die seit 2006 hauptsächlich im Verlag Voland & Quist publiziert, wird seit 2003 genauso regelmäßig mit Preisen und Ehrungen gewürdigt, darunter der Bayerische Kulturförderpreis (2006), der Kulturpreis Bayern der E.on-Bayern AG (2007), der Joachim-Ringelnatz-Preis (2012), der Ingeborg-Bachmann-Preis (2015) und eben die Carl-Zuckmayer-Medaille (2021) um nur einige zu nennen. Darüber hinaus erhielt sie 2015 die Medaille für besondere Verdienste um Bayern in einem Vereinten Europa und 2019 den Bayerischen Verdienstorden. Dass sie dabei seit 2010 auch noch das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg leitet, gerät da fast schon zur Randnotiz. Diese begnadete Dichterin auf eine Disziplin zu reduzieren, dafür tanzt sie einfach auf zu vielen Hochzeiten. Viele Jahre der Star der zumindest deutschsprachigen Poetry-Slam-Szene hat sie sich in letzter Zeit vermehrt auf Musik-Wort-Programme konzentriert. Gemeinsam mit dem Jazz-Drummer Philipp Scholz bildet sie das Duo „Wort Drum Dran“. Während sie eigene, aber auch fremde Texte rezitiert, gibt Scholz den Takt an, manchmal auch nicht ganz so taktvoll aber immer unterhaltsam.
Fast scheint es so, als hätte Nora Gomringer viel zu viel Talent in sich, um sich auf eine Sache zu konzentrieren. Und dabei hat man nicht das Gefühl, dass sie in bestimmten Genres schlechter wäre als in den anderen. Da alles aus der gemeinsamen Basis „Lyrik“ zu kommen scheint, ist auch alles, was sie tut, diesem „lyrischen Diktat“ untergeordnet. Wer sich einen ersten schnellen Eindruck von Nora Gomringers Wort- Sprachwitz verschaffen und dabei gleichzeitig die Kraft ihrer Texte fühlen möchte, dem sei (ausnahmsweise) Youtube empfohlen, später kommen wir dann noch zu den vertiefenden Literaturtipps. Einfach mal nach „Ursprungsalphabet“ suchen und dann das 12-minütige Video ihres Auftritts beim SlamIYC aus der Klagenfurter Sezession aus dem April 2016 anschauen. In diesen 12 Minuten erfährt man eine Menge über die Faszination des „Phänomens Nora Gomringer“. Apropos Phänomen… phänomenal finden wir auch die Lyrikreihe „Poesiealbum“ aus dem Märkischen Verlag in Wilhelmshorst, die seit mehr als 50 Jahren sowohl deutsch- als auch fremdsprachige Poesie wichtiger Autoren aus der Vergangenheit und der Gegenwart veröffentlicht. Im Jahr 1967 in der damaligen DDR gegründet, besteht sie bis heute unverändert weiter und konnte 2019 mit der Ausgabe zu Ingeborg Bachmann ihr „350. Jubiläum“ feiern. Die Namen der Schriftsteller, denen die Ehre zuteilwurde, dass der Verlag ihnen ein „Poesiealbum (PA) widmete“, liest sich wie das „Who is Who“ der internationalen Literaturszene und ist mit Literaturnobelpreisträgern (LNP) nur so gespickt. Ob Peter Handke (LNP 2019/PA 352), Bob Dylan (LNP 2016/PA 189), Günter Grass (LNP 1999/PA302), Pablo Neruda (LNP 1971/PA 53) oder Boris Pasternak (LNP 1958/PA290) oder auch Kurt Tucholsky (PA 34), Ingeborg Bachmann (PA 350), Theodor Fontane (PA 44), man könnte ewig so weitermachen. Dabei ist nicht (nur) die Auswahl der berücksichtigten Schriftsteller das Besondere an dieser Lyrikreihe, vielmehr gibt es mehrere Punkte, die sie so sehr auszeichnet. Jedes Poesiealbum ist Teil eines großen Ganzen und wird damit mit jeder weiteren Ausgabe mehr und mehr zu einem Who-is-who der wichtigsten Lyriker. Darüber hinaus sorgt der bewusst kleine Preis (5 Euro) für eine niedrige Kaufschwelle und begünstigt dadurch auch den Kauf durch Lesergruppen, die sich sonst nicht mit Lyrik beschäftigen würden. Das absolute Alleinstellungsmerkmal ist jedoch, dass jedes Poesiealbum einen Überblick über das (bis Redaktionsschluss zur Verfügung gestandene) Werk des jeweiligen, und nur dieses Autors gibt. Und jeder Dichter erhält nur einmal in seinem künstlerischen Leben diese Würdigung.
Apropos Würdigung… die Nummer 358 ist, wie bereits erwähnt, Nora Gomringer gewidmet. Die Germanistin Catrin Prange, die zu dem Werk Nora Gomringers an der Universität Hamburg promoviert, hat aus neuen Bänden, angefangen bei „Gedichte“ aus dem Jahr 2000 (Eigenverlag) bis zu „Gottesanbieterin" von 2020 (Voland & Quist), Lyrik Nora Gomringers ausgesucht und im Poesiealbum 358 zusammengetragen. Und das Ganze dazu auch noch wunderbar gestaltet von der Bamberger Grafikerin Alice Wellinger. Das hatte sich Nora Gomringer explizit gewünscht und solchen Wünschen nachzukommen, auch das ist eine der Besonderheiten beim Märkischen Verlag. Insgesamt 47 Gedichte sind es geworden, die Eingang in die Nummer 358 gefunden haben, darunter sowohl „Sprechtexte“ wie „Du baust einen Tisch“ oder „Und es war ein Tag“ als auch eher „blattorientierte“ Gedichte wie „Die Mädchen in Bergen-Belsen“ oder „Semana Santa“. Wer Nora Gomringer bzw. ihr Spektrum gerne kennenlernen möchte, dem sei dieses wunderbare Büchlein wärmstens ans Herz gelegt. Wer eine bereits bestehende Bekanntschaft mit ihr vertiefen will, auch für den haben wir hier einen Tipp. 2020 wurde die erste und zweite Auflage des im Voland & Quist Verlag erschienen Buchs „Die Gottesanbieterin“ veröffentlicht. Ein Band in dem sich die Dichterin und bekennende Christin auch mit dem Glauben auseinandersetzt. Unbedingt lesenswert.