Wie jedes Jahr stapeln sich im September die Einladungen zum Saisonauftakt. Schillernde Neuinszenierungen reihen sich von Wochenende zu Wochenende in den Herbst. Ganz neu, ganz anders, noch nie dagewesen – lauten die verheißungsvollen Prädikate zu diesem Premierenreigen meist. Hierin stecken Geld und Aufmerksamkeit. Doch das Produktionssystem in den freien darstellenden Künsten ist seit langem überhitzt und viele Neuproduktionen verschwinden nach nur wenigen Vorstellungen von den Spielplänen, ohne die Chance gehabt zu haben, ein breiteres Publikum zu erreichen. Weitere Premieren stehen schon in den Startlöchern, die Schieflage ist offensichtlich. Um dieser Überproduktion, die die einzelnen künstlerischen Arbeiten einer starken Entwertung preisgibt, entgegenzuwirken, setzt die Nürnberger Tafelhalle, ein etabliertes Haus für die regionale freie Szene, jährlich ein anderes Zeichen zum Start in die Saison. Hier steht zum Beginn der Spielzeit nun schon zum dritten Mal das re:festival auf dem Programm – ein Vintage-Festival für Tanz, Theater, Performance und Musik, das gezielt ältere Produktionen zur Wiederaufnahme einlädt und dem Publikum wiederaufbereitet vorstellt.
In der diesjährigen Ausgabe des Festivals steht anlässlich des 300. Geburtstags von Immanuel Kant und dem 75. Geburtstag des Grundgesetzes die Frage „Was sind wir wert?“ im Mittelpunkt. Eine Frage, die sich auch im nachhaltigen Ansatz des Vintage-Festivals spiegelt. Einem Open Call sind bundesweit rund 130 Kompanien gefolgt und haben sich mit einer bereits abgespielten Produktion zum Thema beworben. Ausgewählt wurden fünf Beiträge aus Nürnberg, Köln, Düsseldorf, Berlin/Luxemburg und Braunschweig.
Am 28. September zeigt die Kölner Kompanie Overhead Project, bekannt für ihre spartenübergreifenden Arbeiten zwischen zeitgenössischem Tanz und Zirkus, die Produktion „Circular Vertigo“, in der sich eine Tänzerin und ein aus Schulalpträumen entsprungenes, von der Decke hängendes, 100 Kilogramm schweres Pauschenpferd – der objektgewordene Leistungsdruck – zum Duell/Duett gegenüberstehen. Der schwindelerregende Tanz dieser beiden Protagonisten durch die Luft verspricht ein außergewöhnlicher Festivalauftakt zu werden. Ein intimes und immersives Theatererlebnis bietet das Kollektiv OutOfTheBox seinem Publikum mit der intermedialen Performance „In Ghosts We Trust“. Am 30.9. können in drei Vorstellungen jeweils sechs Zuschauer:innen in einem atmosphärisch dichten Setting live den menschlichen Spuren in den Arbeitsprozessen von künstlicher Intelligenz nachgehen und erhellende Einblicke dazu gewinnen, wer hier eigentlich die Arbeit macht. Tanz-Fans kommen am 1.10. beim eindringlichen Solo „Warrior“ der aufstrebenden Tänzerin und Choreografin Anne-Mareike Hess aus Luxemburg auf ihre Kosten. Mit viel Fantasie und gleichzeitiger Präzision erschafft sie eine:n mehr als ungewöhnliche:n Bühnenkrieger:in. Vor Kraft strotzend und nach Zartheit und Harmonie lechzend stellt diese Figur die dringliche Frage in den Raum, welchen Menschentypus unsere Welt eigentlich wirklich braucht. Verschiedenste Menschen und ihre Suche nach der Liebe kann man in der Produktion der Nürnberger Autorin und Regisseurin Andrea Hintermaier „Experiment Tinder“ begegnen (1.-3.10.). Die grausame Abwertungs- und Verletzungsgewalt eines Swipes, die Schwierigkeiten aus den virtuellen Welten real zueinanderzufinden, die große Verheißung und emotionale Gefahr, die Online-Dating mit sich bringt, aber auch der Spaß, sind an diesem Abend in der Foyerbar der Tafelhalle hautnah mitzuerleben. Seinen Abschluss findet das Festival am 3.10. in der vielstimmigen Performance „Grandmothers of the Future“ der Düsseldorfer Künstlerinnengruppe waltraud900. Sechs Spielerinnen aus Deutschland, Griechenland, dem Iran und Palästina untersuchen die Traditionslinien ihrer eigenen weiblichen Geschichten anhand der Biografien ihrer Großmütter. Wie sind sie zu den Frauen geworden, die sie heute sind, ist die leitmotivische Frage des Abends, der virtuos um Gemeinsamkeiten, Unterschiede, kulturelle Identitäten und das Frausein auf zwei verschiedenen Kontinenten kreist und mit einer guten Portion live Musik eine ganz besondere Atmosphäre schafft.
Neben den Vintage-Produktionen, die den Kern des re:festivals bilden, stehen außerdem mit „Let’s co-create happier“ ein bundesweiter Fachtag zu nachhaltigen Koproduktionsmodellen im zeitgenössischen Tanz, ein Nachbarschaftsfest, verschiedene Partys und ein Konzert auf dem Programm. Sich für die Entschleunigung der Produktionsbedingungen in den freien darstellenden Künsten einzusetzen, auf Altes zurückzugreifen und dennoch ein relevantes, attraktives Programm zu entwerfen, scheint also kein Widerspruch zu sein. Mehr davon!