Filigrane Formen. Erwählt, definiert, fast klassisch. Ausgearbeitete Kniegelenke, angedeutete Rippen, ein herausragender Ellenbogen und das Gewicht ist im angedeuteten, die Renaissance zitierenden Kontrapost auf das linke Bein verlagert. Das Gesicht verdeckt, und ein Gefäß in Händen, aus dem in einem schnellen Schwall eine Flüssigkeit bis auf den Boden rinnt. Dynamik, mit unvergleichlicher Ruhe und Harmonie gepaart. Ein Fließen, ein Stürzen, ein Schleier. Das ist George Minnes „L’homme à l’outre“, der sich in der Sammlung des Folkwang Museums in Essen befindet.
Folkvangar, die Volkshalle. Weit zurück reicht diese Namenswahl, entstammt sie doch der Edda, in welcher Folvangar den Palast Freyas bezeichnet. Vorrangig als Fruchtbarkeitsgöttin bekannt, fungiert Freya auch als Schutzgöttin der Künste und wacht seit der Gründung des Folkwang Museums im Jahre 1902 auch über seine stetig wachsende Sammlung. Vorrangig konzentriert sich diese auf die Moderne und Zeitgenössische Kunst, und tritt in Dialog mit aktuellen Schauen. So auch die eingangs erwähnte Skulptur Minnes. Der 1897 entstandene „L`homme à l’outre“ trifft in der Reihe „6 1/2 Wochen“ auf Virginia Lee Montgomerys Videoarbeit „THE PONY HOTEL“ aus dem Jahre 2018. In dieser ersten institutionellen Einzelausstellung der Künstlerin in Europa eröffnet sich den Besuchern eine autobiographische Herangehensweise. Symbolisch aufgeladene Elemente lassen dabei Raum für mannigfaltige Assoziationen: Eine Hand durchstößt ein Plunderstückchen, weißer Sirup tropft auf eine Armbanduhr, Zöpfe in verschiedenen Variationen. Dieser eigenwilligen, surreal anmutenden Atmosphäre begegnet Minnes Knabe und es wird offenbar, dass beide Werke mit einem Interesse an fließenden Bewegungen und Flüssigkeiten aufwarten, ein Augenmerk auf das Vergießen legen und eine besondere Beobachtungsgabe für alles Tropfende, Fließende und Spritzende aufweisen. In ihrer dabei dennoch lebhaften Divergenz schränken sie den Definitionsbereich des jeweils anderen Kunstwerkes keinesfalls ein, sondern erweitern diesen und ermöglichen neue, intuitive und innovative Betrachtungsweisen. „Im Dialog beider Werke entsteht über Zeiten, Stile und Medien hinweg ein Spannungsfeld, das von der Suche nach dem verborgenen Sinn der Dinge geprägt ist“, konkludiert der Ausstellungstext.
Nicht nur einen Dialog, sondern beinahe eine Symbiose gehen William Forsythes Arbeiten mit dem Museum Folkwang seit Beginn des Jahres ein. Vier Projekte des 1949 geborenen Künstlers werden hier nacheinander gezeigt. Den Auftakt machte dabei „City of Abstracts“, eine interaktive Videoarbeit, die das Verhältnis des Menschen zum Raum als Sujet erwählt. Mithilfe einer speziell entwickelten Videosoftware werden die Bewegungen der Besucher eingefangen, abgewandelt und in die Arbeit integriert, sodass der sonst passive Betrachter zum aktiven Mitgestalter des sich wandelnden Kunstwerkes avanciert.
„Human Writes Drawings“ lautet der Titel der zweiten Arbeit, bei welcher Forsythe seine Auseinandersetzungen mit Menschenrechten in das Genre Zeichnung überträgt und ab dem Frühsommer zahlreiche Großformate präsentiert. Im Sommer folgt darauf die partizipative Arbeit „Aviariation“ in einem der Lichthöfe des Museums, welche die dortigen Bäume in Bewegung versetzen wird, und der November schließt das Projekt mit der Arbeit „Acquisition/Körperschaft“ ab. Diese von zwei Tänzern ausgeführte Performance wurde eigens für Essen weiterentwickelt und findet im Rahmen der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum statt.
Und da bei einem solch besonderen Geburtstag eine Erwähnung nicht genug ist, lässt das Folkwang dem Jubilar Bauhaus überdies eine eigene Schau zuteil werden. „Bauhaus am Folkwang. Bühnenwelten“ gewährt dabei Einblicke in eigene Bestände und eröffnet damit neue Perspektiven auf altbekannte Bauhauswerke.
Diese bilden jedoch nur einen kleinen Teil der beeindruckenden Sammlung des Folkwang Museums, die beinahe alle Namen der Moderne und Gegenwartskunst bereithält, die sich das Kunstliebhaberherz nur erdenken kann. Von pastellig-pointillistischen, lichtdurchfluteten Landschaften des Impressionismus über konkrete Farbfeldmalereien des Abstrakten Expressionismus bis hin zu wahrhaftigen Meisterwerken des teuersten lebenden europäischen Künstlers der Gegenwart und seinem kapitalistischen Realismus.
600 Gemälde, 280 Skulpturen, 12.000 Graphiken und über 50.000 Photographien und Objekte des Kunsthandwerkes umfasst die Folkwang-Sammlung.
Zu sehen bekommen die Besucher dabei einen einmaligen Einblick in die Strömungen von der Klassischen Moderne bis zum heutigen Tag. Angefangen mit der Deutschen Romantik betört das Folkwang sein Publikum mit all den malerisch vorgetragenen Sehnsüchten eines Caspar David Friedrich, der die Rezipienten in seine Bildwelten eintauchen lässt und häufig sogar einen Protagonisten bereitstellt, mit dem wir uns in der Anbetung der vor ihm liegenden Natur identifizieren und es ihm gleichtun können. Hinzu treten heroische Landschaftsbilder des Spätklassizismus, die hoch realistischen und dabei dennoch rätselhaft anmutenden Gemälde Gustave Courbets, Edouard Manets naturnahe Darbietungen und Pierre Auguste Renoirs scharfsinnige Portraits. Auch begeistern die altbekannten französischen Impressionisten den detailverliebten Betrachter. Angeführt von dem Begründer dieser Kunstrichtung, Claude Monet, reihen sich Gemälde weiterer namhafter Modernisten an den Wänden der Folkwangschen Hallen aneinander: Paul Cézanne, Paul Signac, Camille Pissarro, um nur einige zu nennen. Und selbstverständlich darf hier auch der detailgenau beobachtende, anrührende, bisweilen tröstliche, bisweilen auch aufwühlende Blick des Meisters par excellence Vincent van Gogh nicht fehlen, der nicht zuletzt den durch den Spätimpressionismus veranlassten Aufbruch in die vollendete Moderne begleitete.
Auf diesem Weg wandelten auch die französischen Fauvisten, gemeinsam mit den deutschen Expressionisten. Somit beherbergt das Folkwang vielfältige Facetten der Avantgarde des 20. Jahrhunderts: Henri Matisse mit seinen Fauves, George Braque mit seinen Kubisten, unter denen der unverwechselbare Pablo Picasso nicht fehlen darf, und dann eine imposante, formvollendete Zusammenkunft des Blauen Reiters und der Brücke. All die schrillen Farben, die unterbrochenen Formen, die stilisierten Frauen und die leuchtenden Naturdarstellungen, gepaart mit Stadtbildern und der Industrialisierung, und Muße und Hast und Lachen und auch Leid, Realität und Rausch, beinahe in den Surrealismus abgleitend, der im Folkwang auch von namhaften Künstlern wie Dalí und Magritte und ihren Traumbildern repräsentiert wird.
Daneben finden sich überdies bildhauerische Arbeiten der Moderne, die vor allem von Auguste Rodin, Aristide Maillol, Ernst Ludwig Kirchner und dem eingangs erwähnten George Minne stammen.
Neuere und neueste Malerei wird hingegen von hochkarätigen Anführern des zeitgenössischen Kunstmarktes und damit keinen geringeren als Mark Rothko, Barnett Newmann, Jackson Pollock, Frank Stella, Lucio Fontana, Georg Baselitz und selbstverständlich Gerhard Richter vertreten. Anders als die Kunst des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne wird die Kunst der Nachkriegszeit jedoch nicht als permanente Dauerausstellung dargeboten, sondern vielmehr in wechselnden Accrochagen präsentiert, welche die Vielfalt und Dynamik der neuen und neuesten Tendenzen gelungen herausstellen.
Ergänzt wird die Malerei durch eine umfangreiche Photographische wie auch eine überaus umfassende Graphische Sammlung. Erstere ist dabei auf die Darstellung von Menschen und Architektur konzentriert und legt ihren zeitlichen Schwerpunkt auf die Jahre zwischen 1920 und 1960 sowie auf die Gegenwart, wohingegen die letztere sich thematisch an die Gemäldesammlung anlehnt und als Sammlungsschwerpunkt die Klassische Moderne und dabei insbesondere den Expressionismus besitzt.
Ausgestellt wird dieser imposante Schatz an ständigen und temporären Werken in einem ihm ebenbürtigen Tempel. Wie der Name bereits andeutet, steht die Architektur der erlesenen Hallen der in ihr präsentierten Kunst in nichts nach. Das eingeschossige Ausstellungsgebäude gruppiert sich um zwei Innenhöfe und wird von natürlichem Licht durchflutet, das teils durch die Oberlichter, teils durch bis zum Boden reichende Fenster fällt. Mit seinen klaren Formen und der Verbindung von filigranem Glas und festen, robusten Strukturen, seiner schlichten Eleganz und bestechenden Raffinesse, die mit einer nonchalanten Simplizität eine spielerische Liaison eingeht, stellt das Folkwang Museum ein signifikantes Beispiel für moderne Museumsarchitektur in Deutschland dar. Der 2006 beschlossene Neubau wurde sodann von einem Meister der zeitgenössischen Architektur, David Chipperflied, der auch den Masterplan für die Berliner Museumsinsel erstellt hatte, zur Vollendung gebracht.
Angelehnt an den zeitgenössischen Charakter des umgebenden Baus zeigt das Folkwang noch weitere aktuelle Schauen, die dem gegenwärtigen Kunstgeschehen entstammen. Neben William Forsythe und Virginia Lee Montgomery ist bis zum 14. Juli Young-Jae Lee mit ihren keramischen Arbeiten vertreten sowie bis zum 25. August Nancy Spero, die sich in ihrer Schau mit existenziellen Aspekten des Menschseins auseinandersetzt.
Abschließend ist überdies Margot Bergman mit ihren „Inner and Outer Landscapes“ hervorzuheben, die bis zum 30. Juni den Kunsttempel bereichern. Mal humorvoll, mal melancholisch berührt die gestisch-performative Malerei der 1934 geborenen Autodidaktin ihre Betrachter und lässt sie durch landschaftliche Motive auf den Grund ihrer eigenen Seelen blicken, wobei Landschaften und Identitäten zu verschmelzen beginnen. Eine Thematik, die an die zahlreich in der Sammlung vertretenen Werke Caspar David Friedrichs anschließt und ein Mal mehr unter Beweis stellt, mit welch kluger Präzision aktuelle Ausstellungen, die ständige Sammlung und die Architektur sich im Folkwang Museum ergänzen und einen befruchtenden Dialog miteinander eingehen.