Die Vorstellung, ein Herbert Blomstedt würde anlässlich eines Konzertes der Bamberger Symphoniker als „christlicher Dirigent“ tituliert, wirkt geradezu grotesk. Als gar nicht grotesk wird es aber empfunden, wenn von einem „jüdischen Pianisten“ o.ä. die Rede ist. Aber just bei solchen Feinheiten kann ethnozentrisches Verhalten beginnen, denn die Benennung resp. das Verschweigen von irgendwelchen Zugehörigkeiten wird sehr unterschiedlich gehandhabt. Genau solch ein Beispiel hat die Rachael in Branden Jacobs-Jenkins Stück „Appropriate“ parat, als sie gefragt wird, wie sich denn das von ihr wahrgenommene antisemitische Verhalten ihres Schwiegervaters geäußert habe. Wenn der über sie redete, habe er stets von der „jüdischen Frau“ seines Sohnes „Bo“ Lafayette gesprochen, nicht ganz einfach von seiner Frau.
Dass es in dem kürzlich am Bamberger ETA-Hofmann-Theater aufgeführten Schauspiel auch um ganz andere Stärkegrade diskriminierender Rede- und Verhaltensweise geht, erschließt sich im Laufe eines langen, aber intensiven Abends. Die Geschichte dreht sich um die Nachlasszwistigkeiten der Südstaatenfamilie Lafayette, deren Patriarch verstorben ist. Dabei enthüllt sich durch ein zufällig aufgefundenes Photoalbum die Aktualität der tradierten rassistischen Verhaltensweisen. Dieses Buch dominiert durch seine stetige Präsenz schon die erste Hälfte des Schauspiels, obwohl niemals explizit gesagt wird, was darin zu sehen ist. An den Mienen der Familienmitglieder lässt sich jedoch ablesen, das es um Grausamkeiten geht.
An wem? Natürlich an Schwarzen, die auch noch ein Jahrhundert nach Aufhebung der Rassentrennung diskriminert oder gar gelyncht wurden. Die Inszenierung Sibylle Broll-Papes, oder genauer: das Bühnenbild Rainer Sinells und die Videos von Manuela Hartel, unterstützt die anfängliche Ungewissheit um den wahren Inhalt des Photoalbums durch wechselnde Projektionen. Gruselbilder, die abschnittsweise auf einem Gaze-Vorhang erscheinen, korrespondieren mit den Ahnungen, die sich verfestigen und zunehmend auf Abgründe hinweisen bzw. die Gespenster der Vergangenheit herbeizitieren.
Die Parallele zur Generation der heute 60 bis 80-jährigen Deutschen drängt sich angesichts dieser amerikanischen Familiengeschichte auf, denn auch sie ist häufig von der Ungewissheit darüber geplagt, welche Schuld die Väter im II. Weltkrieg auf sich geladen haben, ob sie gar an Exekutionen teilgenommen oder sich in den Lagern als willige Helfer betätigt haben. Viele Menschen haben auch bei uns so eine Art virtuelles Photoalbum im Kopf, das an ihnen nagt, weil sich die Ungewissheit wohl nie mehr vertreiben lässt. Ob eine Aktualisierung von „Appropriate“ in diesem Sinne für deutsche Bühnen sinnvoll wäre, ließe sich zumindest erwägen.
Auch wenn der Plot bereits im 21. Jahrhundert angesiedelt ist, reicht seine Zeitleiste weit zurück. Das verweist auf die Kontinuität von Denk- und Verhaltensweisen, ohne dass man von einer Art „Erbsünde“ der Weißen reden müsste. Das gerade Familien das „ideale“ Medium darstellen, um solcherlei zu tradieren, gehört zu den ernüchternden Erkenntnissen, denen sich nicht nur die Familie Lafayette stellen muss. Wer nun meint, eine Lehrstunde in Sachen Rassismus sei überflüssig, denn wir wüssten das doch alles längst, sollte sich unbedingt dieses Stück anschauen – und merken, dass die unmittelbare Berührung doch so viel mehr ist als das bloße Wissen.
Der Intendantin steht bei dieser Inszenierung einmal mehr ihr vorzügliches Ensemble zur Verfügung, bei dem man zögert, einzelne Schauspieler oder Schauspielerinnen hervorzuheben. Eine relativierende Anmerkung freilich können wir uns nicht verkneifen: Barbara Wuster ist in ihrer Rolle als „Toni“ Lafayette ein wenig zu bedauern, denn sie ist zur Dauerhysterie verdammt. In chronischer Aufgeregtheit explodiert bei ihr jeder noch so harmlose Satz zu einer Schreiorgie. Man stelle sich nur, manche ihrer Einwände – sie hat fast nur Einwände – würden suggestiv geflüstert: die Wirkung wäre viel intensiver. Freilich ist ihre Bühnenpräsenz schlichtweg beeindruckend. Fazit des Abends: trotz seiner Länge reichen die Spannungsbögen und bleibt er intensiv.