2020 gibt es in Augsburg „Brecht für alle“, wortwörtlich. Denn für Jung und Alt und alle Sparten haben die künstlerischen Leiter Tom Kühnel und Jürgen Kuttner das berühmte Festival als „großes Spektakel und genreübergreifendes Gesamtkunstwerk“ konzipiert. Das bedeutet im Klartext: alles gleichzeitig, statt brav hintereinander.
Das diesjährige Brechtfestival ist vom 14. bis zum 23. Februar in die zwei herausstechenden Tage „Spektakel Vol. 1 und 2“, sowie tägliche Vorstellungen, Konzerte, Dauerattraktionen und weitere Highlights strukturiert. Besonders an den Spektakel-Tagen laufen viele Veranstaltungen parallel zueinander und es ist eine Herausforderung, den Überblick zu behalten. Aber viele Programmpunkte, insbesondere Theateraufführungen, werden wiederholt – und ein echter Brecht-Fan wird garantiert alles zu sehen bekommen!
Die Begrüßung am Abend des Valentinstags 2020 im Treppenhaus des martini-Parks begehen noch alle BesucherInnen gemeinsam, aber direkt im Anschluss beginnt die Qual der Wahl. Besonders begeistert erwartet wird das einmalige Gastspiel des Schauspiels Hannover mit „Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution“ von Heiner Müller (in der Regie von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner). Der besagte Dramatiker hat Brechts Anspruch an ein gesellschaftlich relevantes Theater so konsequent fortgeschrieben wie kein anderer nach ihm, weshalb er auf dem Brechtfestival natürlich nicht fehlen darf – ganz im Gegenteil. Herausragend an diesem Gastspiel: das Stück wird zum letzten Mal überhaupt in Augsburg aufgeführt werden.
Das Staatstheater Augsburg ist dieses Jahr überaus prominent beim Brechtfestival vertreten. Vier Premieren hat es allein am ersten Tag, dem „Spektakel Vol. 1“, zu verzeichnen: „klassenkampf“ nach Lohar Trolle in einer Fassung von Kalliniki Fili folgt Brecht, seiner Familie und seinen Geliebten nach dem Reichstagsbrand 1933 in das Svendborger Exil. Regisseurin Fili spickt Trolles Text assoziativ und kunstvoll mit weiteren Quellen und kreiert so eine Collage, die viele weitere gesellschaftsrelevante Fragen aufwirft. „Fragen Sie mehr über Brecht. Hans Bunge im Gespräch mit Hanns Eisler“ knüpft daran an. In einem musikalischen Rahmen aus Liedern Eislers werden seine berühmten Künstlergespräche zwischen ihm und Hans Bunge (Brechts Regieassistent und späterer Leiter des Brechtarchivs) auf die Bühne gebracht. Heiner Müller kehrt wieder, mit der konzertanten Live-Aufführung der „Wolokolamsker Chaussee. Teil 3: Das Duell“ nach Anna Seghers. Hier darf man durchaus von einer Weltpremiere sprechen, denn erstmals vertraut Heiner Goebbels seine handschriftlich überlieferte Hörspielpartitur einem fremden Klangkörper, den Herren des Opernchors des Staatstheaters Augsburg, an. Zu fortgeschrittener Stunde wird zuletzt das „Woodbury Liederbüchlein“ von Hanns Eisler gezeigt, nun mit den Damen des Opernchores.
Darüber hinaus stellt das Augsburger Staatstheater den „Lehrstück-Parcours“ im Chorsaal auf die Beine. Brechts berühmter Ausspruch zur Natur des Lehrstücks wird hier wörtlich genommen und die BesucherInnen dürfen an unterschiedlichen Stationen nicht bloß zuschauen, sondern kurz selbst spielen. Last but not least machen Staatstheater-Schauspielerin Marlene Hoffmann und eine eigens gegründete Playback-Band mit „The Mini Playbrecht-Show“ ordentlich Stimmung – eine Hommage an Brechts Einflüsse auf die Popkultur.
Damit nicht genug. Das Futur II Konjunktiv inszeniert „Versammelte Irrtümer. Ein Heiner-Müller-Interview-Marathon“. Den ganzen Abend lesen sie ausgewählte Interviews zwischen Heiner Müller und Alexander Kluge, die zum Nachdenken anregen über Geschichte, Kunst, Politik, Theater und vieles mehr. Martin Wuttke, bekannt aus diversen Produktionen mit René Pollesch, spielt „Der Schnittchenkauf“ von ebenjenem Regisseur - ein kritisches, aber trotzdem unterhaltsames Ein-Mann-Stück. In der Kinolounge kann man „Die Welt ändert sich jetzt stündlich“ besuchen, ein spontanes Interventionsprogramm mit Jürgen Kuttner und ausgewählten Gästen. Final geben Corinna Harfouch & Die Tentakel von Delphi ihr Konzert „Brecht in Exile“. Mit künstlerischem Feinsinn machen sich die Künstler dort Brechts Exilgedichte musikalisch zu eigen.
Aber jetzt kommt der größte Streich: das war nur die Halle B13. Nochmal parallel dazu erobert das Gymnasium bei St. Stephan die Halle C1 und zeigt „Der Jasager“ und „Der Neinsager“ von Brecht. Und auch zwischen diesen beiden muss man sich wieder entscheiden... Währenddessen gibt es in der Kantine 1832 Musik auf die Ohren. Zunächst den Sound der Großstadt, Folk Rock mit Jeffrey Lewis, anschließend eine großzügige Portion Deutsch-Rap mit Zugezogen Maskulin.
Daran schließt sich gleich die „Lange Brechtnacht“ an, am Samstag, den 15.2.2020 im Kongress am Park. Die steht unter dem Leitsatz, Brechts Gedankengut assoziativer zu denken und Impulsen der zeitgenössischen Popkultur Raum zu geben. Das bedeutet vor allem eins: Musik! Zu hören gibt es Gisbert zu Knyphausen, The Notwist, Fatoni, Shari Vari, Banda Internationale feat. Bernadette La Hengst mit „Wild at Brecht“, Voodoo Jürgens und den Soundtrack des „Cold War“ (ausgewählte Songs aus der Zeit des Kalten Krieges). Die Aftershow-Party wartet dazu noch mit DJ Aleks Zylla und einem Mix von den 60ern bis zu den 80ern auf, Poetry-Slammer Ken Yamamoto performt und moderiert den Abend, und Sputnik & Apollo (die im echten Leben Jürgen Branz und Rolf Messmer heißen) sorgen für partymäßige Visualisierungskunst im Foyer.
In den fünf Tagen bis zum zweiten Spektakel-Volume geben sich die verschiedensten Akteure die sprichwörtliche Klinke in die Hand, angefangen mit einem starken Experiment in der „Lehrstückzentrale“. Zwei freie Gruppen aus Augsburg, Bluespots Productions und theter, haben mit RegisseurIn Oleg Eremin und Alice Bever zusammengearbeitet. Er in St. Petersburg, sie in New York, die Gruppen in Deutschland. Die gemeinsame Probenarbeit wird mithilfe moderner Kommunikationstechnik bestritten und erst kurz vor der Premiere treffen die beiden Teams auf der brechtbühne aufeinander. Zusammen präsentieren sie ihren Arbeitsstand an Brechts Lehrstück „Die Horatier und die Kuriatier“ und Heiner Müllers Fortschreibung „Der Horatier“.
Das Staatstheater Augsburg und die Städtischen Bühnen Prag präsentieren eine Kooperation und Uraufführung in einem, mit dem Stück „Švejk/ Schwejk“ nach J. Hašek, B. Brecht und von P. Holová. In der Regie von Armin Petras nähert sich ein Ensemble aus deutschen und tschechischen SchauspielerInnen gemeinsam und in beiden Landessprachen der Geschichte des „Schwejk“. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.
Im S-Planetarium wird von Dienstag bis Freitag Brechts gemeinhin anerkanntem Nachfolger eine ganze Hörspielreihe gewidmet: „Kosmos Heiner Müller“. An vier Tagen gibt es einen Rundumschlag von Müller zu hören, mit „Der Untergang des Egoisten Fatzer“ (Bertolt Brecht), „Wolokolamsker Chaussee I-V“ (Heiner Müller), dem Doublefeature „Der Lohndrücker & Der Mann im Fahrstuhl" (Heiner Müller) und zuletzt dem Doublefeature „Hamletmaschine & Bildbeschreibung“ von Müller. Neben dem Hörvergnügen stehen die jeweiligen MacherInnen der Hörspiele bei Werkstattgesprächen vor und nach den Programmpunkten zur Verfügung.
Das Liliom lockt von Mittwoch bis Freitag mit der Filmreihe „Von Hollywood nach Buckow“ und zeigt Bertolt Brecht als Drehbuchautor und Protagonisten eines fiktionalisierten Künstlerporträts. Brechtexperte Dr. Michael Friedrichs wird dabei zu jedem der drei Filme eine Einführung mit Gedankenanstößen und Kontexthinweisen geben. Im Liliom läuft an diesen drei Tagen „Hangmen Also Die – auch Henker sterben“ (1943) von Fritz Lang, „Abschied – Brechts letzter Sommer“ (2000) von Jan Schütte und „Brecht in echt: Jürgen Kuttner live: Hofmeister“. Bei dieser letzten Vorstellung werden überlieferte Filmaufnahmen von Brechts Theaterarbeit präsentiert und dabei live von Ensemblemitgliedern des Deutschen Theaters Berlin synchronisiert.
Wie bisher wird auch der Bertolt-Brecht-Preis 2020 verliehen, zu Brechts Geburtstag am 10.2.2020. Außerdem veranstaltet der Bert Brecht Kreis e.V. die Preisverleihung seines Schulwettbewerbs. Dabei konnten sich SchülerInnen Augsburger Schulen entweder frei oder mit Brechtbezug mit dem Thema „Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ auseinandersetzen und dabei verschiedenste künstlerische Formen nutzen. Das „Best of Poetry Slam – Brechtspecial“ mit David Friedrich holt alle wortgewaltigen Zungen der Slam-Szene auf die Bühne, und für Heiner Müller-Neugierige bieten die Theaterpädagoginnen des Staatstheaters Augsburg einen Workshop an. Und über die Außenanlagen haben wir noch gar nicht gesprochen… Auch dort sind Überraschungen und Spektakel garantiert!
Das „Spektakel Vol. 2“ hat es dann auch noch einmal in sich. Wie versprochen werden einige frühere Programmpunkte noch einmal wiederholt und die Kantine 1832 hat frische musikalische Unterhaltung zu bieten, aber natürlich kommen auch neue Programmpunkte dazu. Im Treppenhausfoyer gibt es einen Videoschnipselvortrag mit Jürgen Kuttner zu sehen. Charly Hübner & Co. riskieren mit musikalischer Begleitung einen frischen Blick auf Brechts „Herrnburger Bericht“ – eine Uraufführung eigens für das Brechtfestival. Das spontane Interventionsprogramm von „Vol. 1“ wird wieder aufgegriffen, unter anderem mit Martin Sonneborn über „DIE PARTEI als Leerstück“ und mit Ehrengast Jürgen Holtz. Schauspieler Lars Eidingers lässt den wilden Brecht in „Bertolt Brechts Hauspostille“ auf der Bühne wieder aufleben, und Milan Peschel und Johann Jürgens machen Brechts Figuren „Baal“ und „Fatzer“ zum Material für eine fiese szenische Behauptung.
Den krönenden Abschluss bildet am Sonntag, den 23.2.2020 dann „Eisler: Wir, so gut es gelang, haben das unsre getan“. Dieser Abend beruht auf Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Inszenierung von „Eisler on the beach – eine kommunistische Familienaufstellung mit Musik“ am Deutschen Theater Berlin. Zusammen mit Berlinale-Filmpreisträgerin Maren Eggert, der Bolschewistischen Kurkapelle Schwarz-Rot und Schauspieler Ole Lagerpusch verdichten sie die Inszenierung von 2015 zu einem Liederabend.