Umrahmt von den Schwesterformaten, der skandinavischen Ice Hot in Oslo und den Swiss Dance Days in Zürich, lud das Theater Freiburg vom 21. bis 25. Februar zu fünf intensiven Tagen rund um den zeitgenössischen Tanz aus Deutschland ein und sorgte damit passend zum dreißigjährigen Jubiläum des Festivals für ein kulturpolitisches Novum: Denn erstmals in der Geschichte der Tanzplattform richtete ein deutsches Stadttheater das Tanzevent aus. Was das so außergewöhnlich macht, darauf verwies gleich die erste Veranstaltung des Festivals, ein Gespräch mit den drei Initiator:innen der Tanzplattform Nele Hertling (leider abwesend), Martin Buroch und Walter Heun. Um den Gründungsimpuls nachzuvollziehen, muss ein Blick auf die Deutsche Kulturlandschaft geworfen werden, die vor allem von einer weltweit einmaligen Theater- und Orchesterlandschaft geprägt ist. Hierunter werden alle Landes-, Stadt- und Staatstheater subsummiert, die über den ganzen deutschsprachigen Raum mit festangestelltem künstlerischen Personal staatlich subventioniert arbeiten. Leicht in den Schatten gerät da immer wieder, das hat sich nicht zuletzt in der Coronapandemie gezeigt, die künstlerisch essenzielle Arbeit der sogenannten freien Szene, jenen Kollektiven, Kompanien, Solokünstler:innen, die nicht Teil des Stadttheatersystems sind. Für eben diese freie Szene des zeitgenössischen Tanzes wurde die Tanzplattform 1994 ins Leben gerufen mit dem Ziel, ihr mehr Sichtbarkeit in In- und vor allem auch im Ausland zu verleihen. Seit jeher ist das Festival ein Amalgam aus „Bestenschau“ und internationalem Branchentreff. Es geht um das Aufzeigen des ästhetischen Spektrums, in dem sich der zeitgenössische Tanz in Deutschland gerade bewegt, ohne dabei in erster Linie Veranstaltungsmarktplatz zu sein oder diskursorientierte Fachtagung, denn hierfür gibt es beispielsweise die Tanzmesse und den Tanzkongress (ab 2026 Tanztriennale). Ähnlich wie das Berliner Theatertreffen, wird auch die Tanzplattform immer wieder in Frage gestellt, vor allem im Hinblick auf die Auswahl der Stücke. Wie können zehn „bemerkenswerte“ Produktionen den State of the Art einer produktiven, weitverzweigten Szene aus ganz Deutschland repräsentieren? Vermutlich gar nicht. Sie können jedoch bestimmte Facetten und Schwerpunkte beleuchten und somit bestenfalls inspirieren zu Diskussion und neuer Praxis anregen. Genau das leistete die diesjährige Ausgabe der Tanzplattform.
An die 550 Produktionen wurden von einer 5-köpfigen Fachjury gesichtet. Das ausgewählte Programm fokussierte sich dabei auf die Vielfalt der Kunstform und lieferte ein breites Spektrum der ästhetischen Einflüsse. Fokus und Vielfalt, das klingt zwar widersprüchlich, liegt aber im Wesen des zeitgenössischen Tanzes, „der sich nicht auf der Basis nur einer Technik oder ästhetischen Form (versteht), sondern aus der Vielfalt heraus. Er sucht Grenzüberschreitungen zwischen den Künsten und bricht immer wieder mit vorhandenen Formen. Zeitgenössischer Tanz in diesem Sinne hat eine offene Struktur, die sich bewusst von festgelegten, linearen Entwürfen der Klassik und Moderne absetzt.“ Fast könnte man meinen, das Programm der diesjährigen Tanzplattform sei eine direkte Umsetzung dieser gängigen Definitionen von Johannes Odenthal aus „Tanz, Körper, Politik. Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte“ gewesen. Sehr konsequent stellten sich die eingeladenen Inszenierungen gegen das restriktive Körperbild und elitäre Perspektiven auf den Tanz. In „Mellowing“ von Christos Papadopulos stand beispielsweise das Dance On Ensemble auf der Bühne mit Tänzer:innen jenseits der 40, ein Alter, in dem die meisten Karrieren auch im zeitgenössischen Tanz außerhalb der freien Szene meist schon beendet sind. Bei „Harmonia“ von Unusal Symptoms/Theater Bremen/Adrienn Hód bestritt ein ganz diverses Ensemble die Show. Tänzer:innen jeder Größe, Hautfarbe mit und ohne Behinderungen brachten hier den Saal zum Beben. Doch nicht nur die Künstler:innen, auch die Anliegen und Ästhetiken der Produktionen waren auf Diversität kuratiert. Es ging um Dekolonialisierung und Sichtbarkeit. So erarbeiteten sich die Tänzer:innen in „The Garden of Falling Sands“ von Yolanda Morales eine marginalisierte Tanzform aus Mexiko, die Cumbia Colombiana, und legten ihre Empowerment-Potenziale frei, in „We love 2 raqs“ von Tümay Kılınçel wurden neue Perspektiven auf den orientalischen Tanz geöffnet und in „A Plot/A Scandal“ ging Ligna Lewis lässig mit der Versklavung durch die westliche Welt ins Gericht. Es ging außerdem um Grenzüberschreitungen. So wagte die Produktion „Lounge“ von Marga Alfeirão eine intensive Gratwanderung zwischen zeitgenössischem Tanz, Müßiggang und Pornografie, die Gehörlose Rita Mazza lud in „Matters of Rhythm“ ihr Publikum dazu ein, in ihre Welt einzutauchen und mit Ohropax in den Ohren eine vielfarbig e Musik aus Licht und Bewegung zu erleben. Katharina Senzenberger ließ in „Wetland“ eine feucht-queere Welt entstehen, in der nackte Tänzer:innen fast schwerelos über den nassen Bühnenboden glitten; Ein Fest der Körper in all ihrer Verschiedenartigkeit, ein utopischer Ort, dem in „Terminal Beach“ von Moritz Ostruschnjak ein wie der Titel erahnen lässt eher dystopisches Stranden der Menschheit in Loop, Zitat und ewiger Coolness entgegengestellt wurde.
Wer bei dieser Bandbreite im Laufe des Festivals kurz den Kompass verlor, wurde bei „Schwanensee in Sneakers“ von Nora Otte und Anna Till, dem einzigen Stück für junges Publikum in der Auswahl, charmant wieder eingenordet. Die Tanzschaffenden aus Dresden entfalteten spielerisch die Geschichte des zeitgenössische Tanzes am Beispiel von Konventionsklischeekracher „Schwanensee“ und führten einen sicher zu Odenthals Definition (siehe oben) zurück.
Über 500 Fachbesuchende aus 44 Nationen reisten nach Freiburg, um über die verschiedenen Produktionen und den State of the Art zu diskutieren, Netzwerke aufzubauen oder zu erweitern. Und in den auch über die Branchenzugehörigen hinaus gut gefüllten Sälen Freiburgs konnte man es spüren: Der zeitgenössische Tanz hat viel zu sagen und stößt auf ein offenes und begeistertes Publikum – wenn man ihn lässt!