Wer den Zumutungen des deutschen Regietheaters im Opernbereich entgehen will, hat eigentlich nur zwei Chancen. Entweder sich die an vielen Orten in den Kinos groß präsentierten Inszenierungen der New Yorker Met anzuschauen oder nach Oberammergau zu fahren. Das geht zwar nur alle zehn Jahre, aber dafür bekommt man eine naturalistische Breitwand-Cinemascope-Inszenierung geboten, die sich ins Operngedächtnis eingräbt. Denn in der Tat sind die Passionsspiele in Oberammergau mittlerweile sehr opernhaft geworden, zumindest oratorienhaft, weil nicht nur die Originalmusik Rochus Dedlers im Haydn-Stil gespielt wird, sondern auch die dazu komponierte Zwischenmusiken von Markus Zwink, die qualitätvoll sind. Und natürlich musiziert im Orchestergraben unter der Bühne – grad so wie in Bayreuth – ein ausgewachsener symphonischer Klangkörper von mehr als nur respektabler Qualität. Auch die Chöre der Volksdarsteller und die Sänger und Sängerinnen der eingestreuten Arien tragen zum opernhaft wirkenden Geschehen bei.
Das traditionsreiche Vorhaben ist sowieso ein Faszinosum der ganz besonderen Art, vor allem wegen der kaum zu überschätzenden integrativen Leistung des Gemeinwesens Oberammergau. Angesichts der zentrifugalen Kräfte unserer globalisierten Zeiten regelmäßig einen solchen Zusammenhalt in einer doch recht kleinen Ortschaft zu realisieren, das ist bewundernswürdig. Allerorten klagt man über die nachlassende Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement, am oberen Ammerlauf jedoch bewältigt man einen Kraftakt, der auf dem Opfer von viel Freizeit beruht.
Wer nach Oberammergau fährt und sich klischeehaft auf ein Spektakel für den amerikanischen Bible Belt gefasst macht, kehrt nach diesem Schauspiel tief beeindruckt zurück. Christian Stückl geht in seiner dritten Inszenierung konsequent jenen Weg weiter, den er vor 30 Jahren zu beschreiten begonnen hatte. Und der bedeutet: keine brüske Anpassung an einen flüchtigen Zeitgeist, sondern behutsames Weiterentwickeln und neue Akzentsetzungen. Natürlich ist wie immer naturalistisches Theater angesagt und wird es wohl für immer bleiben, schließlich soll eine Geschichte anschaulich erzählt werden. Deshalb wird dem Publikum auch eine quälend lange Kreuzigungsszene nicht erspart – da muss man schon durch.
Zu den Eigenheiten der Passionsspiele „vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus“ gehört seit Jahren, dass man darstellerisch nur die Hälfte des in Oberammergau Gebotenen zu sehen bekommt, denn es gibt zwei komplette – weil komplementäre – Besetzungen. Einzelbeurteilungen machen daher nur wenig Sinn, doch wenn man sich umhört, wird einem allerseits bestätigt, dass beide Teams gleichermaßen überzeugen.
Bezüglich der vom Autor gesehenen B-Premiere am 19. Mai sind die Charakterisierungen zweier Persönlichkeiten auffällig – und wohl von Christian Stückl so gewollt. Der Pilatus dieser Aufführung ist sichtlich indigniert darüber, von diesen ganzen Geschichten um einen gewissen Jesus überhaupt behelligt zu werden. Der römische Statthalter will vor allem seine Ruhe haben und ist vom jüdischen Volk sichtlich genervt, wäscht aber bibelgetreu lieber seine Hände in Unschuld. Herodes hingegen ist ein zappeliger Judenkönig, der nervös auf der Bühne herumläuft und sich wichtig tut. Davon steht freilich nichts in der Bibel.
Das übrige Personal ist rollenkonform gezeichnet, natürlich auch die Protagonistenbesetzung, die das Publikum mit einem recht zornigen Jesus konfrontiert, der gleichwohl mit weltfremden Forderungen seine Jünger – zumal den Judas –
befremdet. Seine Feinde lieben wie sich selbst? Stets friedfertig bleiben, obwohl andere bellizistische Töne anstimmen? Man erwischt sich unweigerlich dabei, angesichts des Ukrainekrieges über das Pazifismusdilemma nachzudenken.
Jesus ist mit seiner Kippa auf dem Kopf ein Rabbi unter Juden, während Judas ein dezidiert treuer und guter Jünger ist, der sich allerdings um seine Hoffnung betrogen sieht, der Messias könne das römische Joch abschütteln. Das reicht nicht mehr zum Image eines Verräters. Der sture Traditionalist Annas ist der ruhende Pol im innerjüdischen Konflikt des Hohen Rates, während sich der hohepriesterliche Kaiphas notgedrungen auf Wortgefechte mit Pilatus einlassen muss.
Stefan Hageneier hat den Rundbögen des 1928 erbauten Bühnenhauses eine dystopisch-abstrakte Tempelanlage vorgeblendet, die das religiöse und politische Zentrum eines urbanen Jerusalems darstellt. In der zentralen Mittelbühne werden die eingestreuten Szenen aus dem Alten Testament – Moses und das goldene Kalb; die Erniedrigung der Israeliten; Moses vor dem Pharao; Kain und Abel; Daniel in der Löwengrube – als lebende Bilder gezeigt, als quasi eingefrorenes Leben. Die textile Farbgebung ist bewusst kontrastarm gehalten und beschränkt sich auf dunkle Töne zwischen grau, erdig und schwarz.
Groß ist der Aufwand bei den Massenszenen, denn das Volk wird von einem originellen Bestiarium aus Schafen, Kamelen, Ziegen und Tauben ergänzt – ein wenig Folklore darf durchaus sein. Wenn nach fünf Stunden Schluss ist, brandet zwar heftiger Applaus auf, doch der schnelle Abgang aller Mitwirkenden ermahnt das Publikum an die geheiligte Sitte, nach einer Passion jegliche Huldigungen zu verschmähen. Bis Anfang Oktober ist noch Zeit, sich um Karten zu kümmern und die beeindruckende Inszenierung Christian Stückls zu erleben. Merke: der Zehnjahresrhythmus ist unerbittlich und lässt nicht jedem ausreichend Zeit, beim nächsten Mal mit Gewissheit dabei sein zu können.