Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg hat einen neuen Chef
ART. 5|III im Interview mit Prof. Dr. Daniel Hess, dem neuen Generaldirektor des GNM
Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg (GNM) ist das größte kulturgeschichtliche Museum im deutschsprachigen Raum. Auf ca. 25.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche werden etwa ebenso viele Exponate ausgestellt. Zum Bestand gehören aber deutlich mehr, insgesamt rund 1,3 Millionen Objekte, von der Frühzeit bis zur unmittelbaren Gegenwart. 25 Jahre lang wurde das Haus, zu dem neben den Ausstellungsräumen auch noch eine Fachbibliothek, ein Archiv, das Deutsche Kunstarchiv, umfangreiche und moderne Restaurierungswerkstätten, das Kunst- und Kulturpädagogische Zentrum und ein eigener Verlag gehören, von Prof. Dr. G. Ulrich Großmann geleitet. Seit dem 1. Juli 2019 hat diese Institution einen neuen Generaldirektor, Prof. Dr. Daniel Hess. Seit 2009 war Hess bereits erster Stellvertreter des jetzt in den Ruhestand gegangenen Großmann. Hess‘ Berufung steht daher zum einen für einen nahtlosen Übergang und für Kontinuität. Doch er möchte auch einiges verändern und bewirken. Der Amtsantritt von Daniel Hess ist für uns ein guter Anlass, um mit ihm ein erstes Interview zu führen:
Daniel Hess: Die Aufgabe ist großartig. Das Germanische Nationalmuseum verfügt über ein riesiges Potential: Seine Bestände stammen aus dem gesamten deutschen Sprachraum. Es ist für mich ein modernes, sehr zeitgemäßes Museum, weil es nicht auf einen Nationalstaat beschränkt ist, sondern grenzüberschreitend, europäisch ausgerichtet ist. Damit stellt sich die Frage, inwieweit Geschichte, Vergangenheit und Identität durch Sprache bestimmt sind. Ohne Sprache gibt es keine Erinnerung; Sprache und Vergangenheit bedingen sich gegenseitig. Zu überlegen ist nun, in welcher Form das Gründungskonzept des Germanischen Nationalmuseums, das in der deutschen Sprache eine gemeinsame kulturelle Klammer voraussetzte, in die Zukunft wirken kann. Ich denke, wir müssen nicht mehr mit Heine an der deutschen Kultur verzweifeln, sondern können neue, wertschätzende Zugänge zu den Licht- und Schattenseiten deutsch-europäischer Kulturgeschichte finden.
Daniel Hess: Deutschland und die Schweiz sind sprachlich und kulturell sehr eng verwandt, als Schweizer habe ich aber doch einen anderen Blick auf Deutschland. Ich bin hier nicht aufgewachsen, bin anders geprägt. Je länger ich in Deutschland lebe, desto stärker hat sich mein Blick auf die Schweiz und Deutschland verändert. Beide Seiten sind Teil meiner Identität geworden
Daniel Hess: Nein, aber weil ich seit dreißig Jahren nicht mehr in der Schweiz lebe, ist natürlich der Abstand zu Überzeugungen oder Bedingungen gewachsen, die früher selbstverständlich waren. Dieser Perspektivwechsel ist interessant. In Bezug auf das Germanische Nationalmuseum bedeutet das beispielsweise, sich neu über den Begriff „germanisch“ klar zu werden: In Anlehnung an die „Germanistik“, die sich mit deutschsprachiger Literatur beschäftigt, verstand das „Germanische Museum“ die deutsche Sprache als Klammer für Kunst und Kultur aus dem deutschen Sprachgebiet. Was bedeutet heute eine deutschsprachige Kultur, die über die Ländergrenzen hinauswirkt? Derzeit läuft bei uns z.B. ein Forschungsprojekt zu sogenannten „Bistritzer Teppichen“ (Anm. der Redaktion: Bistritz = Stadt in Siebenbürgen/Rumänien). Diese ursprünglich aus dem osmanischen Kulturkreis stammenden Teppiche hingen lange in Kirchen in Rumänien. Als die dortige deutschsprachige Minderheit im Zweiten Weltkrieg floh, nahm sie die Teppiche quasi als identitätsstiftendes Kulturgut mit. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie komplex Herkunft und Identität in ihrer Bedeutung sind. Dies ist für Europa und seine große kulturelle Vielfalt charakteristisch.
Daniel Hess: Hier im Haus bewahren wir 600.000 Jahre Kulturgeschichte.
Daniel Hess: Anfang 2018 wurden zwei Findungskommissionen – zwei, da es sich um eine Doppelberufung als Generaldirektor des GNM und als Lehrstuhlinhaber für Museumsforschung und Kulturgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg handelte – gebildet, um einen möglichen Nachfolger zu benennen. Knapp ein Jahr später, kurz vor Weihnachten, wurde dann bekanntgegeben, dass sich beide Kommissionen für mich entschieden haben.
Daniel Hess: Es hat Vor- und Nachteile. Ich persönlich habe mir den Prozess einer Hausberufung einfacher vorgestellt. In der jetzigen Situation halte ich es aber für einen Vorteil. Zum ersten Mal ist der Generaldirektor auch Lehrstuhlinhaber. Ziel ist es, Museum und Universität, Theorie und Praxis, enger zu verklammern. Gleichzeitig streben die Leibnitz-Forschungsmuseen eine stärkere Auseinandersetzung mit der Gesellschaft an. Das sind neue Aufgaben, die zusätzlich zu der klassischen Museumsarbeit hinzugekommen sind. In den letzten Jahren sind die Erwartungen und Aktionsfelder der Museen gewaltig gestiegen; es wirken viele verschiedene Fliehkräfte, die am Museum zerren. Es ist sicher von Vorteil, als Stellvertreter da bereits Erfahrungen gesammelt zu haben.
Daniel Hess: Wie bei jeder Bewerbung habe ich umfangreiche Unterlagen einreichen müssen, die meine bisherigen Leistungen, wissenschaftlichen Publikationen und Lehrtätigkeiten etc. verdeutlichen. Außerdem wurden internationale Gutachten eingeholt. Was und wie in der Findungskommission dann diskutiert wurde, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Da war ich natürlich nicht mit dabei.
Daniel Hess: Nein.
Daniel Hess: Ich habe mich gefreut. In den letzten 20 Jahren hätte ich beruflich auch andere Wege einschlagen können, aber ich habe mich immer wieder bewusst für das Germanische Nationalmuseum entschieden. Warum? Weil ich Kulturgeschichte einfach spannend finde. Und je länger ich hier tätig war, desto breiter ist mein Interesse geworden, jenseits von Dürer und auch jenseits der Glas- und Tafelmalerei. Indem man immer wieder neue Gebiete auslotet, verändert sich zwangsläufig die Perspektive. Und die kulturgeschichtliche Perspektive ist eine andere als die eines Kunsthistorikers. Das finde ich spannend, und deshalb fühle ich mich hier am richtigen Ort.
Daniel Hess: In den vergangenen Jahren habe ich hier eine ganze Reihe von Dauerausstellungskonzepten mitverantwortet und mitgestaltet. Gehen Sie durch das Haus und schauen Sie sich beispielsweise die Dauerausstellung zu „Renaissance, Barock, Aufklärung“ an. Was uns hier am Herzen lag, ist die Kontextualisierung unterschiedlicher Gattungen einer Epoche: Gemälde und Skulpturen, Möbel und Musikinstrumente – Zusammenhänge und Übergänge sollen deutlich werden. Dieses Konzept werde ich beibehalten. Insofern ist das, was Sie mit dem Begriff „Kontinuität“ meinten, durchaus vorhanden.
Daniel Hess: Wenn Sie erfolgreich sein wollen, dann müssen sie gut zusammenarbeiten. In der Schweiz gibt es eine lange Tradition, über Parteigrenzen etc. hinaus zusammenzuarbeiten und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Und ja, ich habe ein wohl bestelltes Haus übernommen.
Daniel Hess: Zu den Herausforderungen der kommenden Jahre gehört auch, begonnene Projekte fertigzustellen. Da geht es vor allem um Baumaßnahmen, die mit großen Investitionen einhergehen. Wir bauen derzeit ein neues Depot mit Technikzentrale fünf Etagen in die Tiefe, der erste Bauabschnitt zur Sanierung unserer Dauerausstellung zum Mittelalter hat begonnen, und dann sind bereits die Gelder für die Sanierung des Museumsflügels bewilligt, der im Süden an die Nürnberger Stadtmauer grenzt. Das wird über meine Dienstzeit hinauswirken. Dabei das Entwicklungspotenzial des Hauses zu fördern und auch meinen Nachfolgern in 11 Jahren ein zukunftsfähiges Haus zu übergeben, das sehe ich als meine Aufgabe.
Daniel Hess: Als Forschungsmuseum der Leibniz-Gemeinschaft sehe ich die Rolle des Germanischen Nationalmuseums vor allem darin, die Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Wissenschaft zu gestalten und auszufüllen. Das ist eine große Aufgabe, weil sich die Gesellschaft momentan dramatisch und schnell verändert. Das wirft die Frage auf, wie sich das Museum darauf einstellen kann. Welchen Wert haben die Objekte, die wir hier sammeln für die Gesellschaft? Welchen Wert hat die Vergangenheit? Wie können wir unseren nach wie vor bestehenden Bildungsauftrag erfüllen? Forschung und Vermittlung in ein Gleichgewicht zu bringen, ist eine der wesentlichen Herausforderungen. In beiden Bereichen eröffnen die technische Entwicklung und die Digitalisierung viele Möglichkeiten, an denen wir weiterarbeiten werden.
Daniel Hess: „Erzähler“ vielleicht. Wir reden häufig über Medien oder Vehikel, mit denen Informationen transportiert werden - zum Beispiel digitale Vermittlungsstationen in Dauerausstellungen. Ich aber glaube, dass die Geschichten das Entscheidende sind, um Besucher zu faszinieren. Das Allgemeinwissen und die Lehrpläne haben sich verändert, man kann vieles nicht mehr voraussetzen. Museen haben die Aufgabe übernommen nachzuholen, was in der Schule nicht mehr unterrichtet wird. „600.000 Jahre Kulturgeschichte in 60 Minuten“, so heißt etwa unser neuer Multimediaguide, der in sieben Sprachen zur Verfügung steht. Außerdem erarbeiten wir gerade ein neues Internetangebot, über das Interessierte Informationen zu Objekten unserer Sammlung und der Kulturgeschichte online abrufen können. Dabei möchten wir den Besucher stärker einbinden, wir wollen neue und andere Fragen zu unseren Exponaten berücksichtigen und nicht unsere Erkenntnisse allein an Fachwissenschaftler weitergeben.
Daniel Hess: Das ist ein großes Thema in den Museen. Auch wir sind dabei, Strategien und Konzepte für das Haus zu entwickeln. Über unseren digitalen Bestandskatalog können derzeit schon viele Informationen zu einzelnen Objekten online abgerufen werden. Darüber hinaus arbeiten wir daran, anhand ausgewählter Exponate kulturhistorische Zusammenhänge als Geschichten zu erzählen. Auch solche Angebote werden online zur Verfügung stehen.
Daniel Hess: Natürlich ist das ein wichtiger Aspekt, und wir nutzen auch Förderprogramme, um digitale Projekte zu realisieren. Aber ein Patentrezept zum richtigen Umgang mit dem Digitalen im Museum haben auch wir nicht. Die Frage ist, wie man das digitale mit dem analogen Museum verbindet. Letztlich liegt unser Auftrag darin, Originale zu erhalten und in der Gesellschaft ihren Wert so hoch zu halten, dass auch künftige Generationen sie wertzuschätzen wissen. Das beste Dürer-Gemälde nützt Ihnen nichts, wenn Sie keine Möglichkeit mehr haben, es im Original zu erforschen. Die digitale Welt dient dann der Dokumentation, der Veröffentlichung von Forschungsdaten und der Unterstützung beim virtuellen oder analogen Museumsbesuch.
Daniel Hess: Digitales und analoges Museum müssen sich ergänzen. Es gibt beispielsweise Exponate, die man aus konservatorischen Gründen nicht dauerhaft ausstellen kann. Die kann man aber wunderbar in der digitalen Welt zeigen. Trotzdem kann ein digitales Artefakt niemals das Original ersetzen. Außerdem ist ein Museum auch ein Ort der Begegnung: Man kann sich austauschen, Gespräche führen und anschließend im Café zusammensitzen. Solche Aspekte sollte man nicht unterschätzen.
Daniel Hess: Das sind die gleichen Herausforderungen, die es bei der Konzeption einer analogen Ausstellung zu berücksichtigen gilt. Auch da müssen Sie unterschiedlichen Zielgruppen gerecht werden. Wir arbeiten eng mit dem KPZ (Kunst- und Kulturpädagogisches Zentrum) zusammen und bereiten beispielsweise auch Inhalte für Kindergartenkinder und Grundschüler auf, um möglichst früh den Besucher der Zukunft anzusprechen.
Daniel Hess: Die Besucherzahlen des GNM sind, wie bei den meisten Museen, extrem abhängig von Sonderausstellungen. Langfristig gesehen sind die Zahlen aber relativ konstant. Es wird sich zeigen, ob in Nürnberg noch deutliche Steigerungen möglich sein werden oder ob unsere Ausstrahlung nicht auch an anderen Größen als „Besuchenden“ gemessen werden kann. In diesem Zusammenhang könnte es eine reizvolle Aufgabe sein, ein neues Bewusstsein für den Wert der Geisteswissenschaft in der Gesellschaft zu verankern. Genügend Anlässe gibt es auf jeden Fall, so spielt beispielsweise Religion heute eine ganz andere Rolle als noch vor zwei Jahrzehnten.
Daniel Hess: Momentan arbeiten wir an einem großen, internationalen Ausstellungsprojekt. Davos, Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann, der Zauberberg – um nur ein paar Schlagworte zu nennen. Es gibt keinen besseren Ort als Davos, um die Sehnsüchte und Utopien, die Ängste und die Bedrohungen Europas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu illustrieren. Der europäische Lungenkurort ist ein Zentrum der Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod, eine existentielle Destination, in der ein durch Krisen und Kriege krank gewordenes Europa Heilung suchte. Die Ausstellung verbindet die Medizin- und Kurgeschichte mit der Lebensreformbewegung und den Friedensutopien, die Entdeckung der Volkskunst mit dem Ringen um die Moderne, die Kultur- mit der Wintersportgeschichte, die Suche nach der Einfachheit des Berglebens mit mondänem Lifestyle. So etwas ist noch nicht gemacht worden. Außerdem arbeiten wir damit an der deutschsprachigen Kultur außerhalb der deutschen Nationengrenzen. 2021 soll die Ausstellung fertig sein. Bei dem Projekt wird auch die Literaturgeschichte eine führende Rolle spielen, die Spannung zwischen Wort und Bild und Literatur und Kunst finde ich großartig.
Daniel Hess: Grundsätzlich setzt das Geld gewisse Grenzen. Für Bausanierungen gibt es eigene Etats, da sind wir gut aufgestellt. Was Wechselausstellungen und Ankäufe angeht, sind die Grenzen enger gesteckt. Da sind wir auf Unterstützer angewiesen und ich hoffe, neue Förderer für unsere Projekte begeistern zu können. Um gute Ideen verwirklichen zu können, braucht man eine gute Kondition und gute Mitarbeiter, wie ich sie am GNM habe.
Daniel Hess: Ich habe vielfältige Interessen, lese gerne, auch Musik, Sport und eigene kreative Tätigkeiten spielen eine wichtige Rolle. Doch im Moment bleibt mir leider viel zu wenig Zeit dazu.
Daniel Hess: Eines meiner Lieblingsobjekte ist der Behaim-Globus (Anm. d. Red.: Der Behaim-Globus ist der älteste, erhaltene Erdglobus der Welt. Er wurde gegen Ende des 15. Jahrhunderts gefertigt). Er macht deutlich, dass sich mit unserer sich kontinuierlich verändernden Gegenwart immer wieder neue Fragen an historische Objekte ergeben. Die Vorstellung und das Bild der Welt haben sich in 500 Jahren dramatisch gewandelt; deshalb hinterfragen wir heute die Welt und unser Weltbild auf eine ganz andere Art und Weise. Im Kontext der Globalisierung ist es sicherlich spannend, dass mit São Tomé auf dem Behaim-Globus jene Insel abgebildet ist, auf der 1481 der Sklavenhandel und der Zuckerrohrabbau blühten. Er wird zu einem Dokument der Globalisierungs-Geschichte, indem er die viel gescholtene, europäische Weltsicht abbildet. Aber was hätte er 1492 anderes zeigen sollen? Die Kartographie steckte noch in den Kinderschuhen, Amerika war noch unbekannt. Die Differenz zwischen erdachter und tatsächlicher Welt wird überdeutlich. Auch zeigt uns der Behaim-Globus, dass es eine Zeit gab, in der Kontinente, die heute von sich behaupten, „first“ zu sein, in der damaligen Vorstellung noch nicht existierten. Und der Globus in der nächsten Vitrine der Ausstellung, der eine gute Generation jünger ist, zeigt bereits einen ganzen Kontinent mehr. Wie dramatisch hat sich die Vorstellung von der Welt in kürzester Zeit verändert! Und was hat das wohl mit den Menschen damals gemacht?
Herr Hess, wir bedanken uns für dieses Interview!