
Kulturhauptstadt Europas, welch ein klingender Name. Darüber hinaus für viele Städte aber auch eine Möglichkeit zur Profilschärfung und eine Gelegenheit moderne, innovative Prozesse in der Stadt anzustossen und nachhaltig zu integrieren. Auch dies mögen Gründe dafür gewesen sein, warum sich die Verantwortlichen der mittelfränkischen Großstadt Nürnberg seinerzeit dazu entschlossen haben, ihre Bewerbung um die Kulturhauptstadt Europas 2025 einzureichen. Nun hat die Heimatstadt von Albrecht Dürer und Max Morlock die erste Bewährungsprobe bestanden und es, neben Chemnitz, Hannover, Hildesheim und Magdeburg auf die sogenannte Shortlist geschafft. Grund genug für ART. 5|III ein Interview mit dem Chef des Nürnberger Bewerbungsbüros, Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner, zu führen.
Prof. Dr. Wagner: Nürnberg hat eine rundum überzeugende Bewerbungsschrift vorgelegt, mit überzeugenden thematischen Fundierungen. Ein Pluspunkt unserer Bewerbung ist sicherlich die Einbindung der europäischen Metropolregion Nürnberg. Darüber hinaus war die Jury durchaus beeindruckt von dem politischen Commitment und dem geplanten Budget der Nürnberger Bewerbung mit 85 Millionen Euro. Außerdem – und das ist vielleicht das wichtigste – hat die Jury das große Potenzial erkannt, das in Nürnberg auf vielen Ebenen vorhanden ist.
Prof. Dr. Wagner: Weil wir am Ende des Tages ein künstlerisches und kulturelles Programm entwickelt haben werden, das für Nürnberg, für die Metropolregion und für die Menschen aus ganz Europa von großem Interesse ist, weil wir hier in Nürnberg Themen verhandeln werden, die nicht nur eine drängende, politische, gesellschaftspolitische, soziale Relevanz besitzen sondern auch solche, die wahnsinnig viel Spaß machen werden. Das Spielen wird eine wichtige Rolle in unserer Bewerbung einnehmen.
Prof. Dr. Wagner: Eine Stadt wie Nürnberg steht wahrscheinlich paradigmatisch für viele Städte in Europa, insofern als wir hier aktuell 48 Prozent Menschen mit internationaler Geschichte haben, also eine sehr aufgefächerte Gesellschaftsstruktur. Die Menschen, die hier leben, stammen aus den unterschiedlichsten Kulturen, haben darauf basierend die unterschiedlichsten Erfahrungen in ihrem bisherigen Leben gemacht und haben auch eventuell ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, wie ihre Zukunft aussehen soll.
Und ich glaube, dass es auch eine unserer drängenden Aufgaben ist, auch und vor allem im Rahmen der Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas und hoffentlich auch dann als Kulturhauptstadt selbst, mit den Mitteln von Kunst und Kultur danach zu fragen, wie sich Stadt im 21. Jahrhundert entwickeln kann, also wie sich ein gut funktionierendes, soziales System entwickeln kann. Dazu gehören selbstverständlich Fragen nach dem Stadtraum (wem gehört der öffentliche Raum und wie können wir den Menschen den Stadtraum zurückgeben) genauso wie ökologische Fragestellungen in einer Stadt.
Prof. Dr. Wagner: Wir haben im Februar 2019 eine Regionalkonferenz durchgeführt und im Rahmen dieser Konferenz haben wir uns auf einen Kooperationsmodus verständigt. Mittlerweile haben mehr als 40 Gebietskörperschaften, also Landkreise und Städte aus der europäischen Metropolregion einen Letter of Intent (Anm. der Red.: Absichtserklärung) abgegeben in dem Sie erklärt haben, dass sie sich an der Kulturhauptstadtbewerbung Nürnbergs beteiligen wollen. Daraufhin wurden sechs Arbeitsgruppen installiert in die Kolleginnen und Kollegen aus der Region eingebunden sind. Die Arbeitsgruppen haben thematische Schwerpunkte, Totalitarismus, Spielen, Kulturtourismus, Teilhabe und Chancengerechtigkeit, Kulturerbe und Digitalisierung, Handwerk, Industriekultur & Zukunft der Arbeit. Diese Arbeitsgruppen werden bis zum April 2020 jeweils bis zu drei Projekte entwickeln, die mit Blick auf das Kulturhauptstadtjahr 2025 weiterentwickelt werden sollen und die dann 2025 in Nürnberg und der Metropolregion erlebbar sein werden. Die Akteurinnen und Akteure in der Metropolregion sind also in die Programmgestaltung mit eingebunden. Das Entscheidende ist nun, dass wir mit den Kommunen und den Gebietskörperschaften vereinbart haben, dass sie sich auch finanziell beteiligen. Das Modell sieht eine „Abgabe“ über fünf Jahre ab 2021 ein Euro pro Einwohner und Jahr vor. Entscheidend ist aber, dass dieses Geld nicht in Nürnberg bleibt. Im Rahmen einer sogenannten Kick-Back-Garantie fließt dieses Geld in die Städte und Landkreise für kulturelles künstlerisches Programm der Kulturhauptstadt zurück. Die Stadt Fürth hat, sozusagen als Vorreiter, letzte Woche einen Ratsbeschluss herbeigeführt und wird demnach die „Kulturhauptstadt“ mit 600.000 Euro unterstützen.
Prof. Dr. Wagner: Mit der Entfernung hat das nichts zu tun, die Bereitschaft sich zu beteiligen sinkt nicht deshalb, weil man weiter weg ist von Nürnberg. Einer der engagiertesten Unterstützer kommt beispielsweise aus Hof. Man spürt auch, dass über die Bewerbung zur Kulturhauptstadt eine neue Identität in der Metropolregion entsteht. Alle wollen mitgestalten und es kommen Impulse und Energien, die es in dieser Form vorher so nicht gegeben hat.
Prof. Dr. Wagner: Ich glaube es wird unsere Aufgabe sein dafür Sorge zu tragen, dass im Falle eines Scheiterns, woran wir alle nicht glauben, ein Teil der Projekte doch weitergeführt wird. Es wäre fatal, wenn man am 23. September, also nach der Entscheidung, die Türen dicht machen würde. Dafür ist zu viel passiert.
Prof. Dr. Wagner: Es könnte sein, dass dies an mir liegt. Ich glaube, dass hierarchische Systeme im 21. Jahrhundert nicht ausschließlich die richtigen sind, um im Bereich Kunst und Kultur zu guten Ergebnissen zu kommen. Unsere Aufgabe wird es auch sein, für das 2. Bewerbungsbuch eine Organisationsstruktur zu entwickeln und ich sehe uns da eher in einer Situation wo wir nach Netzwerken und flachen Hierarchien schauen müssen. Und auch nach kuratorischen Prozessen und gemeinsamen Entscheidungsfindungen. Auch in anderen Kulturbereichen wie beispielsweise beim Theater wird das „Intendantenprinzip“ in Frage gestellt. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Es braucht einen Zusammenschluss von Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungsfeldern.
Prof. Dr. Wagner: Ein schönes Beispiel dafür, was wir mit dem Motto meinen, findet sich in dem Projekt der „Time Machine“. Wir wollen Kulturerbe aus Nürnberg und der Metropolregion (Gegenstände, Bücher, Handwerksprodukte) digitalisieren, im Grunde das Past ins Forward bringen und über die Digitalisierung diese Gegenstände einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Potentiale der Vergangenheit neu schöpfen und deren Bedeutung für unsere Zukunft ermitteln. Ein zweiter elementarer Teil ist das Spielen bzw. die Spielzeugindustrie, das historische Spielzeug (Past) dem eventuell das Spielzeug von Morgen (Forward) gegenübergestellt wird. Was passiert zum Beispiel mit den Playmobilfiguren, wenn die Arbeitsgeräte, die die Figuren meistens mit sich führen, im Alltag keine Anwendung mehr finden, weil es diese Jobs nicht mehr gibt? Oder das Projekt eines Kollegen der sämtliche existierende deutsche Spieleanleitungen digitalisiert und untersucht hat und daraus eine Ur-Anleitung entwickelt hat. Was würde es bedeuten, wenn man diese Ur-Spielelanleitung in anderen Bereichen anwenden würde, beispielsweise bei der Entscheidungsfindung in politischen Prozessen oder Aushandlungen innerhalb einer Familie.
Prof. Dr. Wagner: Im ersten Bewerbungsbuch sind wir von 85 Millionen Euro ausgegangen, das ist sicherlich eine realistische Zahl. Wahrscheinlich wird es mehr werden, weil wir im ersten Bewerbungsbuch eher konservative Förderungsszenarien zugrunde gelegt haben. Gut möglich, dass sich an dieser Stelle noch etwas ändert.
Prof. Dr. Wagner: Die städtischen Museen werden durch ihre Verantwortlichen eine Neukonzeption erfahren, weil sie inhaltlich und/oder technisch einfach nicht mehr den aktuellen Anforderungen genügen. Das betrifft unter anderen das Fembo-Haus, das Spielzeugmuseum, das Museum Industriekultur, das Memorium und das Dokumentationszentrum. Die Staatsoper wird generalsaniert aber 2025 nicht offen sein, Nürnberg bekommt ein neues Konzerthaus, die Kulturläden werden neu gedacht als Orte von Kultur und kultureller Praxis. Dann planen wir momentan ein Zentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft und die Kongresshalle soll als Ort für Künstlerinnen und Künstler ausgebaut werden.
Prof. Dr. Wagner: Dafür haben wir den Call for Ideas ausgerufen. 350 Einreichungen sprechen, glaube ich, eine deutliche Sprache. Die Einreichungsfrist ist jetzt abgelaufen. Jetzt können wir uns mit den Ideen beschäftigen. Und ich selbst kann mich für viele Dinge, die auch oft in der freien Kunst angesiedelt sind, sehr erwärmen. Insofern ja, die freien Künstler und Kunst- und Kulturschaffenden werden eine große Rolle spielen.
Prof. Dr. Wagner: Als ich nach Nürnberg gekommen bin, habe ich relativ schnell den Eindruck bekommen, dass über dieser Stadt so etwas wie Mehltau liegt. Mehltau insofern, als man sich in gewohnten Strukturen niedergelassen hat. Es gibt Traditionen, die halt einfach Traditionen sind, auch in der Kulturarbeit. Aber ich glaube, dass es uns innerhalb der letzten zwei Jahren an vielen Stellen gelungen ist, verkrustete Strukturen aufzubrechen. Bei dem ersten Call 2018 haben wir schon gesagt, dass wir die Entscheidung, welche Projekte umgesetzt werden, an die Bürger zurückgeben. Die können entscheiden, was ihnen wichtig ist. Mehr als 14.000 Menschen haben sich beteiligt. Entscheidungsprozesse in andere Strukturen geben, finanzielle Dinge für Projekte bereitstellen, die nicht dem klassischen Kulturbegriff angehören. Oder auch die Erweiterung des Kulturbegriffs mit wir agieren können. All das ist neu.
Prof. Dr. Wagner: Zu klein. Wir sind momentan 12 Personen hier im Bewerbungsbüro. Einige arbeiten in Vollzeit, andere in Teilzeit. In der Verwaltung mussten wir ein wenig aufstocken, weil der Verwaltungsaufwand einfach sehr hoch geworden ist. Da wir in diesem Jahr mit einigen Großprojekten an den Start gehen wollen, brauchten wir natürlich auch einen Zuwachs im Projektmanagement. Und das alles vor dem Hintergrund einer so großen Metropolregion. Im Grunde bräuchte man allein dafür schon ein eigenes Büro oder Team.
Prof. Dr. Wagner: Aus anderen Kulturhauptstädten gibt es gute Beispiele dafür, dass Einheiten bestehen bleiben, die die wichtigen Projekte aus dem Jahr der Kulturhauptstadt fortführen. Schließlich kann nicht alles was wir gemacht haben, danach einfach ins Kulturreferat der Stadt eingegliedert werden, schlicht weil dafür einfach nicht die personellen Ressourcen vorhanden sind.
Prof. Dr. Wagner: Der Titel oder Status einer Kulturhauptstadt Europas ist zwar ebenso nachhaltig und wirkt weit über den genannten Zeitraum, in diesem Fall das Jahr 2025 hinaus, aber trotzdem glaube ich nicht, dass man beides überhaupt miteinander vergleichen kann.
Vita:
Geboren 1961
Studiert in Köln Musikwissenschaften, Deutsche Philologie und Kunstgeschichte
Promotion 1988
Habilitation 1997
Verschiedene Tätigkeiten als Kulturmanager, Kurator, Wissenschaftler und Autor, zuletzt tätig als Fachbereichsleiter für Musik und Darstellende Künste bei der Kunststiftung NRW in Düsseldorf.