Eine ganze Spielzeit in die Wirkungsgeschichte des Troja-Mythos zu stellen, dazu gehört Mut, denn das ist kaum möglich, wenn man ausschließlich auf ausgetretenen Pfaden wandelt. Schon der kürzlich in Erfurt präsentierte „Telemaco“ von Chr. W. Gluck ist trotz seiner Qualitäten kein Repertoire-Renner. Nun also der „Orest“ des Wagner-Adepten Felix Weingartner, der nach seinen Anfängen in den Jahren 1902 bis 1910 irgendwie „stecken“ geblieben ist und nie mehr aufgeführt wurde. Daran maßgeblichen Anteil hatte wohl auch der fulminante Erfolg der „Elektra“ von Richard Strauss, durch die 1905 eine ganz neue und eminent moderne Tonsprache in die Musikwelt kam. Verglichen damit musste der Stil Weingartners geradezu altbacken wirken, jedenfalls von gestern. Dabei gelang ihm mit dem „Orest“ eine bezwingende Fortsetzung der „Wagnerei“, bereichert zudem um eine originelle Libretto-Version aus eigener Feder.
Der alte Mythos vom dahin gemeuchelten Troja-Heimkehrer Agamemnon, überliefert in der „Orestie“ des Aischylos, kommt bei Weingartner fast ganz ohne die eigentlich so zentrale Figur der Elektra aus. Dafür rückt Orest in den Mittelpunkt, sekundiert von der eigentlich hingemordeten Seherin Kassandra. Auch Agamemnon, den seine Frau Klytaimnästra schon gleich nach seiner Rückkunft wegen des Frevels an Iphigenie durch Ägist ermorden ließ, darf in einer Hades-Szene nochmals ins Geschehen eingreifen. Generalintendant Guy Montavon hat durch seinen Ausstatter Hank Irwin Kittel eine Bühne bauen lassen, die sich nach hinten trichterförmig verengt, was den vernehmlich gehörten Vorteil bringt, dass Solisten und Chor akustisch privilegiert werden. Im Schlussdrittel, wenn die Flucht des Orest vor den ihn verfolgenden Erinyen erst nach Athen und dann in das Totenreich führt, weicht dieses Bühnenbild einer flächigen Raumordnung.
Die Inszenierung führt recht gradlinig durch die Handlung und verzichtet zunächst auf jedwede Aktualisierungen, sieht man einmal davon ab, dass es längst Usus ist, statt Schwerter, Dolche und Lanzen die mittlerweile obligatorischen Handfeuerwaffen als Mordwerkzeuge zu benutzen. Das ändert sich allerdings im dritten Akt, der die Überschrift „Die Erinyen“ trägt und von der Verfolgungsjagd der von Klytaimnestras Geist angestachelten Rachefiguren handelt. Die finale Auseinandersetzung um die Schuld des Orest findet nämlich nicht in Athen statt, sondern entweder in Brüssel oder bei der UN in New York. Dort versammeln sich auf der einen Seite die Erinyen, auf der anderen Seite smarte Herren, die wohl diverse Regierungschefs oder gleich den Sicherheitsrat darstellen sollen. Als Richterin fungiert zwar Pallas Athene, aber die hütet sich, allzu göttlich aufzutreten, sondern setzt auf Ausgleich und Kompromiss. Am Ende sind alle mit allen versöhnt und verbündet, und selbst die beiden Schwestern des Orest, also Elektra und Iphigenie, kommen noch zu ihrem unverhofften Glück. Der Trick des neuen König von Argos, also Orest, ist es, die Feindinnen durch die Übertragung von nützlichen Aufgaben einzubinden und dergestalt Frieden zu schaffen. Sozusagen antike Bündnispolitik.
Die das Geschehen tragenden Rollen sind mit Kakhaber Shavidze (Agamemnon), Ilia Papandreou (Klytaimnestra) und Brett Spargue (Orest) ausgezeichnet besetzt, doch dem steht das übrige Personal nicht nach. Vor allem Laura Nielsens Kassandra ist da zu nennen sowie der Aigisthos des Siyabulela Ntlale. Opernchor und Orchester des Theaters Erfurt, verstärkt durch die Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach, stehen unter der Leitung von Alexander Prior für eine ideale musikalische Begleitung.
Dem Erfurter Theater ist mit dieser Wiederentdeckung ein trefflicher Abschluss des Griechenland-Schwerpunkts gelungen. Und eine Erinnerung an jenen orchestralen Wagner-Sound, der zwar eigentlich 30 Jahre vor Weingartners „Orest“ mit dem Tod des Meisters verstummt war, aber hier eine wenn auch epigonale, so doch originelle Weiterführung erfuhr.