Mit dem Siddharta-Zitat fasse Hesse die Kompetenzen Sicherheit, Unabhängigkeit und Entsagung, sagt die Interpretation. Sind wir bereit unseren Verstand zu gebrauchen und immer wieder zu schulen? Geduld zu haben und nicht aufzugeben? Und auch eine Krise zu durchstehen ohne alles hinzuwerfen? Diese Fragen treffen uns diese Tage hart, den einen mehr, den anderen weniger vorbereitet. Schließlich lässt ein Katastrophenfall keine Wahl. Er schafft Verwirrung, Unsicherheit, Not, Panik und verlangt jedem Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt viel ab. Er reißt uns Gewohnheitstiere aus dem Alltag, bedroht uns, verändert uns und birgt zahlreiche Risiken, bietet aber auch Chancen.
Die Welt um uns herum hat sich diese Tage zu tausenden Stillleben gewandelt. Ereignislos, aber bedeutungsschwanger. Die Kultur- und Veranstaltungslandschaft ist auf Null gedreht. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am sozialen Miteinander läuft auf Sparflamme. Was wir lange schwerlich aus eigenen Stücken bewältigt bekamen, wird uns nun aufgezwungen: Entschleunigung, Besinnung, Achtsamkeit, Abstinenz. Wir werden aus dem Takt gerissen und müssen unsere Schritte neu sortieren. Unser Leben wird scheinbar reduziert. Unsere Freiheit massiv eingeschränkt. Gleichzeitig tun sich Kanäle und Zeitfenster auf, neue Wege auszuprobieren. Angebote, die Verhaltensmuster verändern helfen und den Kulturvertrieb diversifizieren: vom virtuellen Museumsbesuch über die Video-Lesereihe der Kleinkunstbühne, die Online-Viewing-Rooms der abgesagten Kunstmesse bis zum Social-Media-Konzert der Pop-Diva. Der Corona-Shutdown ist eine Chance, virtuelle Räume künstlerisch neu zu definieren und die Kultureinrichtungen darüber eng mit unseren Lebenswelten zu verknüpfen. Er befördert überfällige Angebote. Erste neuartige Formate in und mit digitalen Räumen, die das Potential der Krise als Anreiz für Entwicklung und Veränderung aufzeigt. Für die Kulturlandschaft bedeutet dies Abwechslung, Entwicklung und Transformationsimpulse, inmitten der Krise. Aber auch Verzicht.
„Ich kann denken. Ich kann warten. Ich kann fasten.“
Und was nun? Konzentrieren auf das Krisenmanagement? Aus der Not eine Tugend machen? Oder eine Pause gestalten? Eine Auszeit von der hochgelobten Vielfalt. Von der Qual der Wahl aus der schwer überschaubaren Quantität des Freizeitangebots mit seinen unterschiedlichen Qualitäten. „Von allem zu viel und überall das Gleiche“, warnen Kulturexperten seit knapp 10 Jahren, belegten ihre Vorstellung von Kulturinfarkt und sprachen von langjähriger, planloser kultureller Aufrüstung. Ein Experiment der Pause oder Reduktion allerdings, wagte seitdem niemand. Eine ernsthafte kulturpolitische Reflexion blieb vielerorts aus. Daran änderten auch Kulturentwicklungsplanungen wenig, zumal sie oft im Duktus des Deskriptiven und Additiven verharrten.
Diese Tage allerdings ist der kulturelle Alltag verdrängt. Das tägliche Geschäft des eingespielten Kulturbetriebs entfällt, weil die Produktion und vor allem die Präsentation im analogen Raum und Live-Betrieb plötzlich gestoppt sind. „Kulturfasten für alle!“, lehrt die bittere Realität. Für die Kultureinrichtungen. Für ihr Publikum. Der kulturellen Saturiertheit steht plötzlich ein Mangel an Gelegenheit gegenüber und eine große Ungewissheit, was die nächsten Tage bringen. Wir können Schritte zurück machen und auch nach vorne. Uns im Kreise drehen und daraus ausbrechen. Wir werden einmal mehr mit großer Dynamik leben und diese geduldig ertragen müssen. Und werden uns zunächst auf das Leben und Überleben konzentrieren. Mit reduzierter Wirklichkeit, über die es zu berichten gäbe oder an der sich teilnehmen ließe. Wir setzen Buchmessen, Konzertabende und Filmpremieren aus und stillen unsere Sehnsucht nach Kunst mit Substituten in den eigenen vier Wänden. Wir bekommen die Chance beim Kulturfasten den Blick nach innen zu richten. Das Fasten gegen die Lebenslähmung zu nutzen, die im üblichen Alltagstrott gründet, statt mit Hamsterkäufen und überdosierter Todesangst zu reagieren. „Verzicht nimmt nicht, Verzicht gibt“, rät Heidegger. Und darin liegt die Chance dieser Krise. Einige Wochen oder Monate „Social Distance“ statt „Social Impact“ wird Veränderung befördern. Für die Menschen. Für ihren Kulturgenuss. Für den Kulturbetrieb. Wenn wir clever reagieren, können wir nachhaltig profitieren. Unsere analogen mit digitalen Räumen verzahnen, vorhandene Formate mit neuem Erfahrungsschatz überdenken, den Mut zum Experiment stärken und ein wenig Aufbruch und Mut zur Lücke wagen. Wir können uns ins Bewusstsein rücken, was uns fehlt, wenn der Kulturbetrieb pausiert und unsere Geschmacksnerven für sensibleren Kulturgenuss reinigen.
So uns die wirtschaftliche Not nicht auffrisst. Denn nicht nur die Gesundheit ist gefährdet, auch die Existenzen vieler Künstlerinnen, Kultureinrichtungen, Kulturredaktionen und Kulturveranstalter, die große Risiken schultern und allzu oft stetig von der Hand in den Mund leben, von Unterrichtstätigkeit, Workshops, Produktionen und Veranstaltungen, die sie wegen Corona von heute auf morgen absagen mussten, zum guten Teil ersatzlos und auf offenkundig unbestimmte Zeit. Der ökonomische Schaden liegt auf der Hand.
Entsprechend klar definiert sind Leistungsbeschreibung wie Zeitachse des krisengeplagten Aufgabenbuchs. Mit „Kulturfasten“ tragen Kulturbetrieb und Publikum zur Konzentration auf die Bewältigung der gesundheitlichen Risiken bei. Zunächst bis zum Ende der Osterferien, wahrscheinlich darüber hinaus, wird sich die Phase der kulturellen Leere hinziehen. Die Kultur wird jenseits medizinischer Notwendigkeiten nach Kräften am Leben gehalten. Kultureinrichtungen und Publikum brauchen anhaltende Kommunikation und Kontakt, aber auch bewusst Zeit zur Einkehr und Reflexion sowie Entbehrung. Hausaufgabe der Politik wird die Unterstützung der akuten Härtefälle der Kultur- und Kreativwirtschaft sein. Erste Fonds sind inzwischen auf allen föderalen Ebenen aufgestellt und reagieren auf die unterschiedlichsten Rufe aus Kulturlobby und Kulturwirtschaft, die ihre Forderungen so stereotyp verdeutlichten, wie die Bedarfe tatsächlich auch ausfallen dürften. Als bewährtes Instrument der Wirtschaftspolitik greift vor allem die Kurzarbeit. Inwiefern Kredit- und Überbrückungsangebote allerdings stützen können, bleibt angesichts der unerwarteten akuten Ausfälle für Kleinunternehmen und Selbständige fraglich, da sie das Problem nur zeitlich verschieben und aufgehäufte Schulden von Vielen nur schwerlich bis gar nicht abgebaut werden können. Unbürokratische Einmalzahlungen wären hier deutlich vielversprechender, sind aber im Reigen der Hilfsangebote noch die Ausnahme. Hat die Politik hier einen ersten Überblick gewonnen, sollte sie in dieser Hinsicht strukturiert nachlegen.
Gleichermaßen ist bei den Kreativen Eigeninitiative zur Überwindung der Schwierigkeiten gefragt. Diese Erwartungshaltung sind sie gewohnt. Entsprechend kreativ und vielfältig sind die ersten Lösungsansätze. Sie reichen von spendenbasierter Belieferung mit ausgewählten Lyrik-Videos über Aufrufe für Spendenbeiträge und Crowdfunding bis zum Verweis auf die Produktkataloge mit dem Hinweis auf Bücher, CDs und andere Artikel, die zumindest online oder qua Bestellung auch gegenwärtig erhältlich sind. Eine gute Idee ist auch der Verkauf von Ticketgutscheinen für künftige Angebote, der mangelnde Liquidität schmälern hilft und die Bindung an das und Vorfreude des Publikums stützt.
Nicht zuletzt gilt es, das Fasten für Wandlung zu nutzen. Unbedingt zur verstärkten Bindung der realen Kulturorte an virtuelle Realitäten. Und darüber hinaus im Zuge einer Selbstreflexion in einer sehr speziellen Zeit. Niemand sagt, dass wir nachher so weiter machen müssen wie es vorher lief. Ein Impuls der aktuellen Dimension ist außergewöhnlich. Und wenn sich schon wirtschaftlich erheblich Einbußen abzeichnen, bleibt nur die Krise für die persönliche und gesellschaftliche Entwicklung - für die Kulturentwicklung zu nutzen. Labore der Solidarität tun sich auf und machen Mut. Experimente der Kulturproduktion signalisieren Aufbruch und Umdenken. Gelingt es diese nachhaltig anzulegen, könnte das eine Stütze sein, auf dem Weg zur Normalität, zum Selbstverständlichen, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Damit herrschende Ungewissheit und Ratlosigkeit schnell ein Ende nehmen, bevor sie uns zu sehr verwirren.
Dann kann auch die Kunst zurückkehren zu wichtigen Funktionen zwischen Korrektiv, Empathie und Utopie und Charaktere und Handlungen anbieten, die uns zum Perspektivenwechsel durch Fiktion einladen, statt zur ungewissen und vermeintlich folgenschweren Veränderung des realen Lebens. Dann kann auch die Kunst wieder zu lieb gewonnenen Ritualen unseres Alltags avancieren und seine Kraft als Wirtschaftsfaktor neu entfalten. Die Unverzichtbarkeit unserer einzigartigen Kulturlandschaft dürfte dann wieder stärker im Bewusstsein von Gesellschaft und Staat verankert sein. Zumindest das!
Infokasten 1:
Corona-Krise | Einschränkungen
Qua Allgemeinverfügung haben Kommunen und der Freistaat Bayern Corona-Präventionsmaßnahmen eingeleitet, die erhebliche Einschränkungen des öffentlichen Lebens bedeuten. Auch und gerade die Veranstaltungslandschaft ist davon stark betroffen. Alle Kultureinrichtungen sowie die Gastronomie sind nach heutigem Stand mindestens bis Ende März, viele bis mindestens 19. April geschlossen oder mit hohen Auflagen versehen, so dass sämtliche Veranstaltungsformate für diesen Zeitraum abgesagt werden mussten. Zudem ist völlig unklar, ob die aktuellen Fristen ausreichen oder dieser „Shutdown“ mit achtsamem Blick auf unsere Gesundheit ausgedehnt werden wird.
Infokasten 2 :
Digitale Kulturräume | Web-Tipps
https://artsandculture.google.com
https://digitalekunsthalle.zdf.de/index.html
https://www.arte.tv/de/arte-concert/
https://www.staedelmuseum.de/de/digitale-angebote
https://biennalefotografie.de/edition/virtueller-rundgang/
https://kunsthalle-baden-baden.de/2020/02/11/kunsthallerevisited-com/
Infokasten 3:
Öffentliche Hand | Unterstützungs- und Beratungsangebote
https://www.stmwi.bayern.de/soforthilfe-corona/
https://www.kfw.de/KfW-Konzern/Newsroom/Aktuelles/KfW-Corona-Hilfe-Unternehmen.html
https://bayern-kreativ.de/aktuelles/handlungsleitfaden-corona-virus/
https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/coronavirus.html
https://www.bmas.de/DE/Presse/Meldungen/2020/corona-virus-arbeitsrechtliche-auswirkungen.html