Friedrich Rückert, geboren in Schweinfurt, lebte von 1820 bis zu seinem Tode in Coburg. Der Dichter, Übersetzer und Sprachgelehrte Rückert ist seit vielen Jahren Namensgeber der Literaturpreise der beiden fränkischen Städte. Zu seinem 150. Todestag am 31.01.2016 wird der Coburger Rückert-Preis an einen herausragenden Namen der türkischen Literatur in deutscher Übersetzung vergeben, nachdem die ersten drei Preisrunden an arabische und persische Literatur vergeben worden waren. Den Rahmen für die ausgewählten Literaturregionen bildet der Übersetzungsraum Rückerts. Er umfasst insbesondere die arabische und persische, aber auch die hebräische, koptische, aramäische sowie indische Literatur. Ausgezeichnet werden der literarische Anspruch der Werke und ihre deutschsprachige Verfügbarkeit.
Die Nominierungen, so heißt es aus der städtischen Pressestelle, spiegelten die Tatsache wieder, dass die Literatur der Türkei - weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit - in Thematik und Sprachkunst auf Weltniveau mitspiele und trage der Entwicklung Rechnung, dass eine Generation von bedeutenden Schriftstellerinnen ... die vermeintlich männliche Domäne des literarischen Schaffens erobert. Die Begründungen der Auswahl unterstreichen diesen Anspruch und zeichnen ein weites, facettenreiches Feld türkischer Literatur- und Kunstwelten. Sie führen in das Schaffen der Auserwählten zusammenfassend ein:
So sind es neben Ali Hasan Toptas vier unterschiedliche Frauen der türkischen Literatur, die als Preisträgerinnen für den Coburger Rückert-Preis 2016 in Frage kommen. Seine Schriften sind Höhepunkte der Literatur über Anatoliens Dörfer. Die Schattenlosen, sein bisher einziges ins Deutsche übersetztes Buch, beschwört die Atmosphäre eines gottverlassenen anatolischen Dorfes herauf. Das unentbehrliche Personal vom Bürgermeister über den Imam bis zum Dorftrottel ist komplett vertreten, doch dieser meisterhafte surrealistische Roman hat nichts mit dem Genre des sozialkritischen Dorfromans gemein, der seit 1950 jahrzehntelang im türkischen Literaturbetrieb erfolgreich war.
Die neu entdeckte Lyrikerin Yesim Agaoglu, schreibt nicht nur Gedichte, sondern fotografiert, filmt und arbeitet mit Installationen. Auch ihre poetische Welt erscheint daher immer visuell. Ihre Metaphorik ist bildkräftig, ihr Text oft melodramatisch. Ihr lyrisches Ich lässt sich augenzwinkernd auf wagemutige Rollenspiele ein. Transvestiten, Huren, Mörder, Meerjungfrauen, Punks, Straßenmusikanten und das Zirkusvolk bevölkern ihre Texte. Die Übergänge zwischen realen und surrealen, magischen und märchenhaften Dimensionen sind fließend. Mit den Randgruppen, die sie in ihrer Lyrik lebendig macht, steht sie im engen Zusammenhang mit der Prosaliteratur der Postmoderne. In der türkischen Lyrik, in der sich wenige Frauen durchsetzen konnten, hat sie eine führende Position erlangt.
Die Romanautorin Oya Baydar, die lange in Frankfurt gelebt hat und die politische Lage in ihrer Heimat in ihren Romanen engagiert und kritisch betrachtet, kann wohl als die „Grande Dame“ der politischen Literatur der Linken in der Türkei bezeichnet werden. Ihre acht Romane und ein Erzählband sind Klassiker mit hohem literarischen Anspruch, die stets politische Themen aufgreifen und Stellung beziehen, ohne je Propaganda oder gar Pamphletismus auch nur nahe zu kommen. Vier davon sind ins Deutsche übersetzt worden. Unter ihnen ragt der Roman „Verlorene Worte“ durch seine geschickt vernetzten Spannungsbögen heraus. In diesem Roman wird einerseits das Politikum der PKK in den Mittelpunkt gestellt, andererseits die Schaffenskrise eines Schriftstellers beleuchtet und drittens ein Leben zwischen westlicher und östlicher Kultur beschrieben.
Die Physikerin Asli Erdogan, die ihre Identität in der Fremde, in den Favelas Brasiliens, erkundet, wird als herausragende Vertreterin der mittleren Generation von den türkischen Lesern hochgeschätzt. Sie hat vor allem mit dem Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“ auch international für Furore gesorgt. Asli Erdogan bedient sich in diesem Roman einer raffinierten Struktur, schreibt einen „Roman im Roman“ in einer mitreißenden poetischen Sprache.
Die Schriftstellerin Sema Kaygusuz, die die Mythologie der Ägäis ebenso verarbeitet wie die Vertreibung und Vernichtung der Armenier im 1. Weltkrieg, gilt als eine herausragende Vertreterin der jüngeren türkischen Literatur. Sie machte sich früh einen Namen als Erzählerin in der Türkei, legte fünf Bände mit Kurzgeschichten und zwei Romane vor und ist im Augenblick vor allem mit Theaterarbeiten beschäftigt. Sema Kaygusuz hat alevitisch-kurdische und jüdische Wurzeln in der Familie und schreibt aus dem Bewusstsein dieser multikulturellen, zudem stark mystisch geprägten Tradition heraus. Sema Kaygusuz‘ Prosa ist musikalisch, eindringlich, bildhaft und dennoch gut verständlich. Die Schriftstellerin fühlt sich von der oralen Tradition gleich mehrerer türkischer Regionen inspiriert, aus Geschichten, Märchen und Legenden in verschiedenen Dialekten. Auch in den Übersetzungen ins Deutsche durch verschiedene Übersetzer (Barbara und Hüseyin Yurtdas, Sabine Adatepe) kommt die klangvolle Sprache gut zum Ausdruck.
Die Jury setzt sich zusammen aus Prof. Dr. Erika Glassen, Türkei-Expertin und Herausgeberin der 20bändigen „Türkischen Bibliothek“, Dr. h.c. Michael Krüger, Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und früherer Verleger des Hanser-Verlags, und der Orientalistin und Übersetzerin Dr. Claudia Ott.
Copyright Fotos:
Friedrich Rückert, Fotos © Stadtarchiv Coburg