Ein passenderes Motto zu einem Festival in Corona-Zeiten hätte das Würzburger Mozartfest kaum finden können: „Widerstand – Wachsen – Weitergehen“, das klingt nach „Jetzt-erst recht“ und nach kultureller Resilienz. Auch die Wahl des Porträtkünstlers für 2020 ist ganz in diesem Sinne, denn mit dem unermüdlichen Musica-Antiqua-Schlachtross Reinhard Goebel hat man einen – in Würzburg „Artiste étoile“ genannten – Künstler verpflichten können, der mit seinem Wahlspruch „Aufrütteln – Mitreißen – Verzaubern“ so gar nicht für Stillstand, Zaudern oder gar Kapitulation zu haben ist. Dafür ist er zu sehr ein Sucher, Entdecker und Antreiber.
Ab dem 30. Mai entfaltet sich ein opulentes Programm, das kaum einen Aspekt im Schaffen Mozarts und seiner Zeitgenossen auslässt, viele Gattungen berücksichtigt und ein Defilee renommierter Künstler und Ensembles vorüberziehen lässt. Auftakt ist gleich mit einer Besonderheit, nämlich mit der Klavierfassung von Beethovens Violinkonzert, die Herbert Schuch mit dem WDR-Sinfonieorchester interpretiert, das von Reinhard Goebel dirigiert wird. Es folgen am Pfingstwochenende Auftritte der ARD-Preisträger, des Ensembles „ars supernova“ mit Werken des Mittelalters, eines Mandoline/Hammerflügel-Duos und des Witt-Ensembles. Letzteres sorgt schon deshalb für Lokalkolorit, weil es nach dem letzten Würzburger Hofkapellmeister Friedrich Witt benannt ist, einem Zeitgenossen Beethovens.
Die erste Juni-Woche ist von eher kleinen Formationen geprägt, so vom Auftritt der vier „Hanke Brothers“, dem Duo Ragna Schirmer (Klavier und Moderation) und Isang Enders oder dem klavierbegleiteten Rezitationsabend mit Hannelore Hoger (am Flügel: Sebastian Knauer), doch zwischendurch kann man auch einmal „Auf einen Kaffee mit Mozart“ gehen (mit dem Würzburger Stadtheimatpfleger Hans Steidle). Orchestral wird es interessant, wenn das Münchner Kammerorchester den sehr originellen und kreativen Pianisten Kit Armstrong mit gleich zwei Klavierkonzerten (von Mozart und Beethoven) an die Tasten bittet (3. Juni). Gleichfalls im Kaisersaal der Residenz gastiert tags drauf das Korean Chamber Orchestra mit der Geigerin Clara-Jumi Kang als Solistin.
In den Hofgarten der Residenz muss man sich begeben, will man die Meininger Hofkapelle hören, die am 5. Juni zur Nachtmusik aufspielt. Ein klassisches Klavier-Rezital mit Robert Levin steht am folgenden Tag auf dem Programm, bevor es im Würzburger Dom so richtig ernst wird mit Anton Bruckners 3. Symphonie d-moll. Die Bamberger Symphoniker spielen unter dem Dirigat Manfred Honecks. Es folgen Formate wie „Sitzkissenkonzert“, „Teekonzert“, „Mozart am Grün“ oder Serenaden. Das Kammerorchester Basel tritt am 9. Juni zusammen mit dem prominenten Pianisten Fazil Say auf, das Chamber Orchestra of Europe einen Tag später mit dem Tastenwunder Jan Lisiecki. Mit Viktoria Mullova gastiert am 11. Juni eine weitere Geigenvirtuosin beim Mozartfest.
An Fronleichnam und am Folgetag folgen die nächsten Auftritte des „Artiste étoile“, also Reinhard Goebels. Er wird die Bamberger Symphoniker in einem Mozart/Beethoven-Programm dirigieren, in dessen Mittelpunkt die Viola-Version von Mozarts Klarinettenkonzert steht, interpretiert von Nils Mönkemeyer. Nach der „Sternal Symphonic Society“ (Motto: „Streichquartett meets Jazzband“) gibt sich endlich auch das Hausorchester der Stadt, das Philharmonische Orchester Würzburg, die Ehre. Es wird von GMD Enrico Calesso dirigiert und bietet keinen geringeren Solisten auf als den Wundergeiger Augustin Hadelich, der Max Bruchs Violinkonzert g-moll spielen wird.
Mitte Juni dominiert das „MozartLabor“, dann folgen Auftritte der Berliner „Lautten Compagney“ und des Trios Prégardien/Hecker/Helmchen. „Secret Places“ und „Bidla Buh“ sind weitere Formate überschrieben, bevor es Lautenmusik zu Mozarts Zeit gibt, die Festival Strings Luzern auftreten und die Würzburger Philharmoniker zur klassischen Nachtmusik in den Hofgarten bitten. Vor dem nächsten Auftritt Reinhard Goebels mit dem Münchner Rundfunkorchester am 21. Juni bietet das Marmen Quartet einen klassischen Streichquartettabend an. Zu den eher seltenen, aber höchst interessanten Ensemblegästen gehören sicherlich die Amsterdam Sinfonietta und die Kammerakademie Potsdam, die am 23. bzw. 24./25. Juni jeweils im Kaisersaal auftreten, letztere übrigens unter der Leitung des hochgeschätzten Dirigenten Hartmut Haenchen.
Die letzten Tage des Festivals sind geprägt von originellen Beiträgen, die unter Überschriften wie „Music in the Dark“ (Klaviertrio), „Auf schwankendem Grund“ (Hommage an Beethoven und Hölderlin) oder „Beyond Silence“ (Tanz und Musik) angekündigt werden. Zum Familientreffen der Widmanns bittet das Irish Chamber Orchestra am 26. Juni in die Residenz. Der Tausendsassa Jörg Widmann dirigiert, seine Schwester Carolin spielt Mendelssohns Violinkonzert. Zur „Lounge Amadé“ lädt das New Piano Trio am 27. Juni in den Odeon Lounge Ballsaal ein und wird unter der Devise „I Love Pop“ ein Klaviertrio auf neuen Wegen zeigen. Anschließend kann man, atmosphärisch passend, zur Streichquartettnacht in den Gartensaal der Residenz gehen. Der letzte Tag des diesjährigen Würzburger Mozartfestes beginnt mit einer Matinee für die Besetzung Violine und Hammerflügel und endet mit der „Jupiternacht“ im Vogel Convention Center. Ultimativer Ausklang dann bei Live-Musik eines Sextetts mit dem bezeichnenden Beinamen „Sanduhr“!
ART. 5|III konnte dem Porträtkünstler des Mozartfestes, Reinhard Goebel, einige Fragen zu seiner Arbeitsweise und seinen Vorstellungen stellen.
REINHARD GOEBEL: Am Ende meiner Partitur des Violinkonzerts von Beethoven habe ich ein großes rundes rotes Stoppschild eingeklebt: Bis hier hin und nicht weiter! Hier ist die Grenze meiner eigen erfahrbaren Musikwelt ... und wenn wir dieses Beethoven-Jahr 2020 hinter uns gebracht haben, dann stehe ich zwar schon in den Startlöchern für 2027, aber ich werde zwischenzeitlich auch ganz weit zurück gehen und immer Bach, Altes vom Vater und Neues von Johann Christian vor allem machen. Inzwischen schaffe ich es, aber auch mit modernen Orchestern bis zu Werken von Lully, also zu den Anfängen der Orchester-Kultur zurückzugehen.
REINHARD GOEBEL: Um ausgerechnet Keiser habe ich ja einen riesigen Bogen gemacht – daran reizt mich gar nichts. Ich brauche immer einen Einstieg über Kunstgeschichte, über Historie – und da hat mich Dresden doch im Grunde seit den frühen 80ern sehr fasziniert: meine Heinichen- und Veracini-Aufnahmen waren sicher „die ganz großen Pflöcke“, die ich persönlich einschlagen konnte, mit Telemann und Biber setzte ich doch eher fort, was meine Lehrer in den 70ern begonnen hatten – und wovon sie ganz schnell die Finger ließen ...
REINHARD GOEBEL: EINE „Ausgrabung“? Hunderte!! In meinem Keller stehen anderthalb laufende Meter große Partituren, 50 Bände à 250 Seiten, die ich im Laufe meiner Music-Antiqua-Zeit aus den fotografierten Original-Quellen abgeschrieben habe, da ist jede Menge Schrott drin, der nur noch lokal-historische Bedeutung hat. Aber selbst baltische Trauergesänge zum Ableben diverser schwedischer Könige können – an der richtigen Stelle angebracht – einen gewissen Reiz entfalten. Aber wirklich „bereut“ habe ich diese Arbeit nie, ich habe ja dadurch so unvergleichliche Einblicke in die Musikgeschichte bekommen – und mich (ernsthaft jetzt!) noch NIE im Leben gelangweilt.
REINHARD GOEBEL: Es gibt so viele Perspektiven, aus denen man auf die Jahre 1790 - 1810 schauen kann – nur die eine, die teleologische NICHT: Nein, „es“ musste nicht so kommen, es hätte auch ganz anders kommen können, wenn … und dann: „Schwächer“ (wer misst hier mit welcher Elle?) sind diese Kompositionen nicht, nein, sie sind erst einmal anders und - wie Telemanns Werke im Vergleich zu denen von Bach - eher brillante Zeitdokumente als tiefsinnig-dunkle Erkundungen von fremden Seelenlandschaften. Aber jetzt mal „ganz unter uns“: Hörer, die ein Werk von Hummel, Wrantizky, Pleyel oder Reicha (ein-)schätzen können, brauchen eigentlich auch keine „Eroica“ ...
REINHARD GOEBEL: Und wie!!! Die wahre Entdeckung, die wahre Revolution in Sachen Mozart steht ja noch aus, denn Mozart wurde NIE von der Aufführungspraxis erobert, er blieb trotz herber Paukenschläge von Harnoncourt doch immer fest in der Hand derer, die aus jedem Menuett ein Pontifikalamt machen. Heute sitzen auf der Bühne mehr Musiker, als zu Mozarts Zeiten im Publikum, der Konzertsaal maß – wenn überhaupt – 9x11 Meter, die neuen Tasteninstrumente waren unglaublich leise, wurden im Konzert nur von einem einfach besetzten Quartett und nicht von 16 Ersten Violinen begleitet … Nein: Es dreht sich NICHT darum, auf einer geliehenen Barockvioline ein paar geräuschhafte Noten zu spielen, sondern unmissverständlich und im theoretischen Umfeld des galanten Zeitalters verortet den Unterschied zwischen 3/8 und 6/8 darzubieten und klar zu machen, welche Folgen die Bezeichnung „andante piu tosto allegretto“ für die herkömmliche Spiel- und Denkweise (man beachte die Reihenfolge!) haben könnte … ich höre jetzt mal auf, sonst finde ich mich später vor dem Kadi wieder...!