„Anatevka – The Fiddler on the Roof“, der Broadway-Welterfolg von 1964, besitzt so schon ewige Aktualität, doch jetzt hat das Musical von Joseph Stein, Jerry Bock und Sheldon Harnick noch an Brisanz hinzugewonnen, denn es geht darin ja um die Vertreibung von Juden im vorrevolutionären Russland und damit um Unrecht in den zaristischen Zeiten, denen die heutigen mehr denn je ähneln. Das Leipziger Opernhaus bzw. seine „Musikalische Komödie“ hat den Evergreen neu inszeniert und ist dabei nicht auf die naheliegende Plattitüde hereingefallen, das Stück politisch aktuell aufzumotzen. Aber man merkt natürlich, wenn Männer in Uniformen, die uns nur allzu vertraut sind, in der Schtetl-Idylle eines ukrainischen Dorfes auftauchen.
Idylle? Na ja, auch die Bewohner einer ostjüdischen Kleinsiedlung haben so ihre Alltagskonflikte, aber sie versuchen stets, sie im Sinne einer wohlverstandenen Tradition zu lösen. Man streitet sich, man rauft sich zusammen, aber meistens heißt es: das haben wir schon immer so gemacht, alles soll so bleiben. Das will unbedingt auch Tevje so halten, der Milchmann aus Anatevka, der seine heiratsfähigen Töchter gewinnbringend verkuppeln muss, aber mit dem ziemlich neuen Phänomen ’Liebe’ nicht rechnet, und vor allem: nicht zurechtkommt.
Eine will einen armen Schneider heiraten, die andere einen nach Sibirien Verbannten, die dritte gar einen Christen. Da ist das Maß voll, der Bruch in der Familie nicht mehr abwendbar. Dass in diese Situation die Vertreibung aus der vertrauten Heimat durch die zaristische Polizei platzt, verschlimmert das Leid zwar noch, ist aber auch ein Teil der vorläufigen Lösung: schicksalhafte Ungewissheit per Exodus nach Amerika.
Die Leipziger Operettenbühne – denn das ist die „Musikalische Komödie“ – hat für dieses tragisch unterfütterte Musical eine in vielen szenischen Erfindungen geradezu rauschhafte Inszenierung realisieren können. Cusch Jung setzt einerseits voll auf eine atmosphärisch sehr original wirkende Schtetl-Aura (Bühne und Kostüme: Karel Spanhak) und bringt andererseits durch perfekt choreographierte Einlagen des hauseigenen Balletts viel Elan in den Ablauf. Was insbesondere die tänzerische Männerriege auf die Bretter zaubert, ist schlichtweg umwerfend!
Musikalisch sekundieren Chor und Orchester des Leipziger Komödienhauses unter der Leitung von Tobias Engeli auf treffliche Weise, kecke Einwürfe eingeschlossen. In sängerischer Hinsicht ist die Aufführung sowieso eine Offenbarung, was einmal mehr die Erfahrung nährt, dass der originellste Gesang allemal in den Häusern mit dem Etikett ’Komische Oper’ anzutreffen ist. Natürlich wirkende Stimmen, keine Tremoloexerzitien, so hat man’s gern.
Das gilt natürlich in besonderer Weise für die Hauptrollen, allen voran der prächtige Milko Milev als Tevje. Er versöhnt auch schauspielerisch das Patriarchalische mit dem Humanen. Jovial wünscht er „Gut Schabbes“, feilscht mit den Nachbarn und lässt sich auch von der Polizei nicht aus der Ruhe bringen. Außer wenn’s gegen die Tradition geht, dann spürt man die Unerbittlichkeit orthodoxer Glaubensgewissheiten und Bräuche. Der Abschied nach der Ausweisung aus Anatevka mutet wie ein Trauerzug an, und der Fiedler spielt seinen Kehraus nicht mehr auf dem Dach.
Eigentlich ist diese Geschichte um die nie endenden Pogrome und Vertreibungen nichts für ein Komödienhaus, zumal angesichts der aktuellen politischen Umstände. Aber das atmosphärische Einfangen ganz normalen jüdischen Lebens mit seinen Sonn- und Schattenseiten hat hier auf gelungene Weise das Musical als Gattung gefunden. Und es hat mit der Leipziger Musikalischen Komödie eine ideale Sachwalterin gefunden. Begeisterter Applaus!