GLOSSE
Mittelerde als Hausaufgabe
veröffentlicht am 28.09.2022 | Lesezeit: ca. 2 Min. | von Martin Köhl
Mit der Allgemeinbildung ist es so eine Sache, sie ist nämlich kein unverrückbarer Kodex, sondern modischen Strömungen bzw. jeweils aktuellen Präferenzen unterworfen. Was mal wichtig war, kann irgendwann auch wieder weg. Wer mit Agamemnon, Elektra, Priamos, Medea & Co. groß geworden ist und ödipale Konstellationen einzuschätzen wusste, steht heutzutage ratlos da, wenn die Bezugspersonen, die in aller Munde sind, plötzlich auf so keltisch anmutende Namen wie Targaryen, Gandalf oder Ciri hören. Zaubern wie Gandalf, tyrannisch wie Daenerys, das verstehe einer. Nur zählt das halt allmählich zur Allgemeinbildung, dagegen sich zu sträuben ist aussichtslos.
Dummerweise fühlte ich mich schon vor fast 50 Jahren überfordert, wenn in unserer WG von einem gewissen Frodo die Rede war, denn aus dem „Schatzinsel“- und Robinson-Crusoe-Alter war ich raus und hielt, was man in der Folge als „Fantasy“ bezeichnete, für ziemlich infantil. Aber das Genre hat sich über die Jahrzehnte nicht nur gut gehalten, es ist sogar mehr denn je zum Kult geworden. „Game of Thrones“ gehört zum Pflichtprogramm, wer da nicht up to date ist und das „House of the Dragon“ einordnen kann, blickt auch bald nicht mehr bei den zugehörigen Anspielungen durch.
Eine Kommilitonin hatte mich seinerzeit ständig mit irgendwelchen Hobbits, Orks und Trolllen genervt. Wo Mittelerde ist, weiß ich bis heute nicht. Und nun also schon wieder der „Herr der Ringe“, diesmal auf Amazon Prime gehievt für mehr als eine Milliarde. Natürlich inklusive Frodo. Tja, was tun, alter weißer Mann? Kapitulieren gilt nicht, es hilft also wohl nur, sich mit den derzeit so angesagten Phantasiewelten anzufreunden, auch wenn’s bisweilen schwerfällt. Um mitreden zu können. Und wegen der erodierenden Allgemeinbildung. Man muss ja nicht gleich elbisch plaudern.