Terminkalender sind zwar eine nützliche Sache, aber gleichermaßen auch eine leidige. Wer darin blättert, dem rinnt die Zeit buchstäblich durch die Finger. Um dem Terminkalender mehr positives abgewinnen zu können, springt man auch in der Kalenderindustrie neuerdings auf den Entschleunigungszug auf. Ob das mit zu Lebensplanern umfunktionierten Kalendern, in denen man mindestens wöchentlich zum Resümieren aufgefordert wird, wirklich gelingen mag?
Einer, der das mit der Achtsamkeit und Entschleunigung schon vor Jahren richtig verstanden hat, ist der Literaturkritiker Michael Braun, der seit 2012 Jahr für Jahr den Lyrik-Taschenkalender (von 2007 bis 2011 Deutschlandfunk-Lyrikkalender) herausgibt; in diesem Jahr gemeinsam mit Lyriker und Übersetzer Paul-Henri Campbell. Denn mit diesem handlichen Kalender wird der Besitzer, respektive Gehetzte, nicht mehr nur mit der eigenen Terminflut konfrontiert, sondern darf sich zwischendurch auch mal ausruhen und das Schönste: einfach nur lesen. In Gedichten nämlich. Bevor man also dem nächsten Geschäftsessen beiwohnt oder passender, das nächste Weihnachts-, Geburtstags- oder Osterfest organisiert, wird man jeden Montag und Donnerstag in Gedicht- und Interpretationsform zum Runterkommen animiert.
Am Buchkonzept hat sich auch für 2018 glücklicherweise wenig verändert, denn es ist der Entschleunigung durchaus zuträglich, wenn man weiß, was man hat. Zu lesen bekommt man 52 Gedichte inklusive Kurzinterpretationen und Kommentare. Wie immer haben 17 Dichter und Dichterinnen der Gegenwartsliteratur aus dem deutschsprachigen Raum jeweils zwei Lieblingsgedichte rausgepickt, die sie erstens vorstellen und zweitens kommentieren und gegebenenfalls auf ihre Aktualität hin untersuchen. Außerdem werden sie selbst von den beiden Herausgebern anhand eines exemplarischen Gedichtes vorgestellt. Die klitzekleine Neuerung für das nahende neue Jahr besteht in der erstmaligen Mitaufnahme von einigen Gedichten anderer Sprachen, die, ins Deutsche übersetzt, vorgestellt werden. Weil dichten und übersetzen immer miteinander einhergehen, erlaubte man sich diese Novität. (Nicht nur) hier tritt u. a. Paul-Henri Campbell auf den Plan, der den kaleidoskopisch-schönen Taschenkalender mit seinen eigens für diesen Zweck übersetzten Lyrikperlen noch ein Stück weit mehr zu bereichern vermag.
Beste Voraussetzungen also, um zwischendurch mal etwas Laissez-faire an den Tag zu legen. Diese Zeit sollte man sich in jedem Fall nehmen, denn „wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann“. (Marie von Ebner-Eschenbach)
Michael Braun/ Paul-Henri Campbell (Hg.): Lyrik-Taschenkalender 2018, Wunderhorn, Deutsch, 230 Seiten, 17,80 €, ISBN: 978-3-88423-559-1