
„Ein Zauber des Neuen liegt in diesem Anblick, der ganz und gar nicht in Worte zu fassen ist“, schreibt Mary Shelley im August 1842 in einem Reisebericht über die Sächsische Schweiz – was nicht stimmt, denn es gelingt ihr im Folgenden vortrefflich, das Gesehene mit Worten zu verbildlichen. „Wir dringen in die geheimen Kammern der Natur ein, die sie mit ihren wildesten Launen geschmückt hat“, heißt es da weiter, und „In einem gigantischen Maßstab ist die Erde gebrochen, aufgespalten und weggetragen worden“. Die malerische Beschreibung dieser fantastisch anmutenden Gegend ist der krönende Abschluss und letzte Bericht zahlreicher Destinationen, die Mary Shelley mit ihrem Sohn Percy Florence während ihrer beiden Durchreisen durch Deutschland in den Jahren 1840 und 1842 besucht. Die Routen führen sie u.a. von Metz über Trier, Mainz, Heidelberg und Baden-Baden in den Schwarzwald (1840) sowie von Köln über Frankfurt nach Bad Kissingen, weiter nach Eisenach, Erfurt, Weimar, Leipzig, Berlin – mit abschließender Einkehr in Dresden und einem Abstecher in die Sächsische Schweiz (1842). Shelleys Ausführungen und der Blick auf ein Deutschland vor über 150 Jahren lesen sich vor allem dann hochinteressant, wenn man mit den Gegenden vertraut ist, die sie beschreibt. Neben vielen positiven Eindrücken vermitteln ihre bereits 1844 in englischer Sprache erschienenen Reisebriefe (an fiktive Personen) auch die Beschwerlichkeiten, die damaliges Reisen mit sich brachte, und entführen den Leser zu den zarten Anfängen des Tourismus‘ in Deutschland.
Autor und Übersetzer Michael Klein, der sich in den vergangenen Jahren bereits um die deutsche Übersetzung von Conan Doyles „Der Fall Oscar Slater“ und zahlreicher Erzählungen von James M. Barrie verdient gemacht hat, nimmt sich mit „Streifzüge durch Deutschland“ nun der Übersetzung der Reiseberichte von „Frankenstein“-Autorin Mary Shelley an. Zwar ist die englische Erfolgsschriftstellerin auf ihren Reisen eine durchaus kritische Beobachterin, jedoch liegt diese Tatsache auch in ihrer Vergangenheit begründet, die Autor Michael Klein im Nachwort näher erläutert. Ihre Ausführungen sind nicht selten auch erheiternd, unter anderem dann, wenn sie über die (Un-)Sitten der Deutschen sinniert oder sich leidenschaftlich über die Vorschriften im aufstrebenden Kurort Kissingen echauffiert. Nichtsdestotrotz ist ihr das Reisen das größte Seelenheil, an dem man als Leser gerne teilhat und als Reiselustiger den ein oder anderen Anflug von Nahweh verspürt.
Mary Shelley: Streifzüge durch Deutschland. Morio Verlag, aus dem Englischen von Michael Klein, 200 Seiten, 19,95 €, ISBN 978-3-945424-65-0