Die beiden Spätwerke Leoš Janáceks an einem Abend zu präsentieren erfordert Mut, denn „Die Sache Makropulos“ und „Aus einem Totenhaus“ sind zwei recht herbe Einakter und musikalisch weit entfernt von der Freundlichkeit des „Schlauen Füchsleins“. Blockbuster sehen anders aus und vor allem: hören sich anders an. Zur Eröffnung der diesjährigen Maifestspiele hat das Hessische Staatstheater Wiesbaden aber genau dies gemacht, und man muss sagen: mit großem künstlerischen Erfolg.
Nicolas Brieger hat beide Werke inszeniert und den naheliegenden Einfall verwirklicht, teilweise übereinstimmende Bühnenbildelemente zu verwenden. Wesentlich ist die Idee des Archivs, denn sowohl in der Makropulos-Geschichte – wo es u.a. um eine Erbsache geht – als auch im Totenhaus-Drama spielen Akten eine wichtige Rolle. In der einen Kurzoper geht es um entscheidende Dokumente, in der anderen um eventuelle Vergehen, mit denen man eine Verbannung in ein Straflager begründen kann.
Janáceks „Die Sache Makropulos“ ist eine geradezu kafkaeske Versuchsanordnung, in der es um den Wert des Lebens und die fatale Sehnsucht nach Unsterblichkeit geht. Emilia Marty nahm zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Elixier zu sich, das ein Leben um 300 Jahre zu verlängern mochte, also für den normalen menschlichen Zeithorizont quasi unsterblich machte. Mit einem langen Leben wird man aber nicht zwangsläufig glücklich, weshalb Emilia nach Ablauf dieser langen Zeit für das Leben und die Lebenden nur noch Verachtung übrig hat.
Sterben will sie trotzdem nicht, schon deshalb nicht, weil es da noch eine uralte Erbgeschichte zu regeln gibt, die wiederum mit jenem Elixier zusammen hängt, dem sie ihr langes Leben verdankt. Als dessen Wirkung allmählich nachlässt, versucht sie mit allen Mitteln, an die Formel des Mittels heranzukommen. Die Story lebt wesentlich von der Verwirrung jener Mitmenschen, denen die Identität der Protagonistin nicht klar ist, denn sie lebte ja zu sehr unterschiedlichen Zeiten und war mit sehr unterschiedlichen „Rollen“ ausgestattet.
Die anspruchsvolle Partie der Emilia Marty alias Makropulos alias Müller etc. (sie lebte ja 300 Jahre lang unter wechselnden Namen) wird von Elissa Huber mit Bravour bewältigt, schauspielerisch wie sängerisch. Ein Feuerwerk der Affekte, imposant! Auch die anderen Rollen sind durchwegs ausgezeichnet besetzt. Die Inszenierung rückt mit ihrer Eingangsidee und dem Schluss die Vorstellung in den Vordergrund, dass man vor den Dämonen der Vergangenheit – und damit vor den Geheimnissen der Archive – erschaudern kann.
Gerade der Blick auf die Protagonistin erhellt das. Mutet sie eingangs wie eine Frau an, die herrisch Aufklärung verlangt, quasi wie in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, so erinnert sie später aufgrund ganz anderer Lebensrollen, die in der Erinnerung diverser Männer geblieben ist, an eine verführerische Carmen, auf die alle narrisch waren. Emilia entscheidet sich letzten Endes dafür, die Formel, derer sie habhaft werden konnte, nicht mehr nutzen zu wollen, gibt sie aber weiter an eine andere Frau, die das Papier ohne zu zögern verbrennt.
Auch in „Aus einem Totenhaus“ geht es um Beweismittel von Bedeutung, allerdings um solche, die einen Schriftsteller als Dissidenten verraten könnten. Die Folgen waren im zaristischen Russland absehbar, und sie trafen auch Fjodor Dostojewski, als der Zar die Folgen der europäischen Revolutionen für Russland zu bändigen suchte. Seine „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ berichten von den Erfahrungen seiner Verbannung in die Katorga, der seinerzeit schlimmsten Strafvariante.
Das Bühnenbild mit den Archivutensilien wird hier erweitert um die Episode mit dem Adler, der mit gebrochenen Flügeln im Gefängnis sitzt und am Ende der Gefangenschaft entfliegt, während die Lagerinsassen weiter zur Fronarbeit getrieben werden. Viele Särge sind zu sehen, die den jederzeit möglichen Tod vor Augen führen. Die Pantomime über die Schöne Müllerin, eine Art Scherzo als Mittelteil des Einakters, gerät zu einem textilen Mummenschanz der makabren Art, quasi eine Kostümparty mit queerer Anmutung.
Die Wiesbadener Besetzung findet virtuos durch die extremen Anforderungen dieser Oper, das Orchester unter der Leitung von Johannes Klumpp nicht minder durch die schwierige Partitur. Ein Extralob muss sein für Johannes Martin Kränzle, der im großen Monolog des Schischkow tiefe Beeindruckung zeitigt. Alles in allem ein imposanter Auftakt der diesjährigen Maifestspiele. Am 14. Mai ist dieser Doppelabend abermals zu erleben.