Nachdem über Deutschlands Theaterhäusern flächendeckend das Urteil „marode“ gefällt wird und auch die Komische Oper in Berlin mit ihrem Haus in der Behrenstraße diesem Befund nicht entkam, stand ein recht weiter Umzug gen Westen an. Das Schillertheater in der Nähe des Ernst-Reuter-Platzes kann zumindest aus Zuschauersicht als fast idealer Ort für die Interimszeit gelten. Und das Ensemble der Berliner Version einer „Opéra comique“ bespielt es jetzt – wie zu erwarten – auf fulminante Weise.
Dafür steht noch vor allem der Name Barrie Koskys, des einstigen Prinzipals, dessen Inszenierungen Publikumsmagneten im Programm der „Komischen“ bleiben. Seine Version von Jacques Offenbachs Klassiker „Orpheus in der Unterwelt“ hatte am Wochenende die Premiere der Wiederaufnahme, wenige Wochen zuvor wurde der Broadway-Klassiker „Chicago“ in Koskys Inszenierung präsentiert.
Offenbachs Idee, die Geschichte vom begnadeten antiken Sänger Orpheus quasi in ihr Gegenteil zu verkehren, wird in dieser Inszenierung noch zugespitzt. Das tragische Moment der Unterweltszene entfällt, der verbotene Blick zurück zur Gattung Eurydike ist nicht letal, sondern eröffnet die Perspektive auf ein bacchantisches Lasterleben. Das Panoptikum der Götterwelt wird ironisch vorgeführt, der Boss Jupiter ist ein Jammerlappen. So weit, so Offenbach.
Barrie Kosky übertreibt gerne, aber er tut es halt stets auf charmante und witzige Art. Der Überdruss Eurydikes an der Musik ihres Gatten, der sich hier als Fiedler versucht, zeigt sich z.B. an dem Meer von Geigen, das hinter einer Tür hervorsprudelt und dann den ganzen Bühnenboden bedeckt. Eine davon schnappt sich die genervte Ehefrau und zertrümmert sie. Man kann nur hoffen, dass das jeweils zerdepperte Instrument aus dem Low-Budget-Angebot chinesischer Provenienz stammt und zu zweistelligen Preisen erworben wurde…
Eingangs tritt die – in manchen Inszenierungen gestrichene – „Öffentliche Meinung“ auf, und man glaubt, diesen Prolog auf bzw. vor dem Theater als Kritikerschelte auffassen zu müssen. Dann geht es hinein in eine rasante Aufführung mit virtuos choreographierten Ensembleideen, einem famosen Bienentanz (nach Jupiters Verwandlung in ein Insekt zwecks Bezirzung der Eurydike) und einem diabolischen Duett nach der Pause.
Wenn am Ende in Plutos Unterwelt bacchantisch gefeiert wird und die Protagonistin, also Eurydike, endgültig die Seiten wechselt, findet das Bühnenbild seine Klimax in einem überdimensionalen Teufelsbacchus. Wie sehr die Geschlechterrollen ins Wanken geraten sind, zeigt sich im Finale, wenn dem Jupiter ein dürftiges Gemächte umgehängt wird, während Eurydike präpotent daherläuft. Einziger Einwand gegen diese fulminante Inszenierung: das ständige Grimassieren der Akteure wirkt etwas zwanghaft.
In musikalischer Hinsicht ist eine durchweg fabelhafte Besetzung festzustellen, die mit einem effektvoll aufspielenden Orchester und unter Matthew Toogoods ebenso souveränem wie inspirierenden Dirigat diese Premiere zu einem fast rauschhaften Erlebnis machte. Die Titelrollen waren mit Tansel Akzeybek (Orpheus) und Bryony Dwyer (Eurydike) stimmlich und schauspielerisch superb besetzt, doch die herausragende Stimme des Abends gehörte ausgerechnet einer Nebenrolle: Mirka Wagners Venus.
Anderntags ging es im Musical-Vaudeville „Chicago“ noch eine Spur rauschhafter zu. Barrie Kosky beweist in diesem Broadway-Klassiker von Fred Ebb und Bob Fosse (Musik von John Kander), wie gut er die transatlantische Szene kennt. Und er macht es noch besser als die da drüben es können, denn er hat in Berlin einen „Apparat“ zur Verfügung, von dem man in Manhattan nur träumen kann.
Der Plot um eine bizarre Mordgeschichte wird zum Anlass für eine teils orgiastische Revue, in der Victoria Behr einmal mehr ihre überbordende Kostümierungsphantasie ausleben darf. Es glitzert, es tanzt, es überwältigt. Problematisch, nein: ärgerlich ist allerdings der einfältige Text, der vielleicht dem Anspruchsniveau am Broadway genügen mag, nicht aber einem mitteleuropäischen Publikum zuzumuten ist. Ständig wird besungen, dass alle sich doch lieben, obwohl es ja um Mord und Totschlag geht.
Otto Pichlers Choreographie korrespondiert perfekt mit der musikalischen Leitung Adam Benzwis vom Flügel aus. Die Hauptrollen sind mit Katharina Mehrling (Roxie Hart), Jörn-Felix Alt (Rechtsanwalt Billy Flinn) und Ruth Brauer-Kvam (Velma Kelly) brillant besetzt. Dass Letztere noch als Fünfzigjährige so fulminant über die Bühne fegt und dabei auch noch phantastisch singt, ist schlichtweg zum Niederknien.
Fazit: zwei Aufführungen, die jede für sich triftige Gründe sind für eine Fahrt nach Berlin.
Mehr Informationen unter www.komische-oper-berlin.de