Roland Schimmelpfennig hat das Libretto geschrieben, Christoph Ehrenfellner hat es in Töne umgesetzt, und nun wurde das Auftragswerk des Würzburger Mainfrankentheaters der Öffentlichkeit vorgestellt: „Karl und Anna“, eine Oper, die auf der 1926 erschienenen Erzählung gleichen Titels beruht, die von Leonhard Frank verfasst wurde, der als bedeutendste literarische Stimme Würzburgs gilt. Die Premiere am zurückliegenden Wochenende war zugleich die Tauglichkeitsprüfung für das Genre Musiktheater im neuen „Kleinen Haus“ – Prüfung bestanden!
Die Bühne besitzt weder einen hinteren Abschluss noch einen Schnürboden, steht also frei im Raum. Folglich sind Chor und Orchester rundum platziert, sie „umspielen“ quasi das Geschehen. Und das hat es in sich, denn Franks Erzählung mutet den Lesern verstörende Schicksalsverflechtungen zu. Dass diese auch noch eine kaum zu leugnende Aktualität besitzen, liegt daran, dass es um persönliche Kollateralschäden in Kriegszeiten geht und der Gedanke an den Ukrainekrieg nahe liegt.
Das Stück, das in einer DDR-Verfilmung 1985 den Untertitel „Die Frau und der Fremde“ trug, beginnt als typische Kriegsheimkehrergeschichte und handelt zunächst von der Kriegsgefangenschaft der Soldaten Karl und Richard. Letzterer ist verheiratet und erzählt so intensiv von seiner Frau Anna, dass Karl sich imaginär in sie verliebt. Als ihm allein die Flucht gelingt, stellt er sich prompt bei Anna vor und gibt sich als Richard aus. Diese hatte längst fälschlicherweise eine Nachricht über den Tod ihres Mannes bekommen.
Nach anfänglichen Zweifeln überzeugen die vielen Details, die der Fremde von ihr weiß, Anna dazu, sich auf ihn einzulassen. Als Richard dann doch aus der Gefangenschaft zurückkehrt, ist sie bereits schwanger und nicht mehr dazu imstande, ihre neue Liebe zu leugnen. Unfähig zur Rache, bricht Richard zusammen, während Karl und Anna die Stadt verlassen und geloben, sich nur noch durch den Tod voneinander trennen zu lassen. Ein wenig Trost für Richard wird am Schluss durch die Zuwendung der Nachbarin Marie angedeutet.
Die Inszenierung arbeitet fast durchgehend mit Nebenerzählungen, die in der Hinterhof-Nachbarschaft spielen und die Gemeinsamkeiten von Kriegsschicksalen beleuchten. Marie regt gegenüber Anna gleich mehrfach an, andere Männer zu nehmen, denn das sei angesichts ihrer Nöte nicht verwerflich. Die wahrscheinlichere Option eventueller Heimkehrer ist in diesen Erzählungen die von Gewalt getränkte Rache an der Untreuen, was aber den tatsächlichen Ausgang der Karl/Anna-Geschichte konterkariert.
Das Bühnenbild ist anfangs geprägt von einem aus Steinbrocken bestehenden Kreuz, das von den beiden gefangenen Soldaten weiter vervollständigt wird und wohl ein Zeichen der Hoffnung darstellen soll. Rege Betriebsamkeit herrscht am Rande des mittigen Spielplateaus. So tratschen die beiden Nachbargören Alma (Jasmina Aboubakari) und Elfie (Anastasia Fendel) per Kabeltelefon über die jeweils neuesten Ereignisse oder Gerüchte. So stellt man sich Hinterhofgemauschel vor – originell!
Ehrenfellners Musiksprache ist alles andere als avantgardistisch, vielmehr orientiert an der Wiener Schönbergschule und damit an jener Zeit, in der auch der Plot spielt. Die Musik kommentiert zwar oft genug recht deutlich das Geschehen, enthält sich aber drastischer Schilderungen. In lichten Momenten des Geschehens hellt sie sich geradezu demonstrativ auf und findet stellenweise zu gefälliger – also spätromantischer – Harmonik. Besonders auffällig geschieht das in der großen (und großartigen!) Steigerung bei den zentralen Worten „Was einer fühlt, ist Wahrheit“.
Die vokale Solobesetzung ist mit Martin Berner als Karl, Daniel Fiolka als Richard und Vero Miller als Anna als schlichtweg ausgezeichnet zu werten. Hinzu kommt eine pfiffige Marie (Minkyung Kim), die am Ende ihr stimmliches Potenzial in höchsten Höhen ausreizen darf. Gábor Hontvári und Sören Eckhoff halten Orchester und Chor perfekt auf Kurs. Einzelne Mitwirkende treten aus den Ensembles heraus und mischen sich ins Geschehen ein, was die Inszenierung noch lebendiger macht. Fazit: Das Mainfrankentheater hat mit dieser Uraufführung einen Meilenstein für Würzburg gesetzt.