Liebesgeschichten, die keine Dynamik entfalten, bleiben zwangsläufig fade. In Claude Debussys einziger Oper, der Vertonung von Maurice Maeterlincks „Pelléas et Mélisande“ aus dem Jahre 1902, kommt die Liebe fast nur als Beiläufigkeit vor, so viel Ungesagtes und Zufälliges beherrscht die Geschichte. Rücken bisweilen trotzdem Leidenschaften in den Fokus, so werden sie verlässlich relativiert. Hier gibt es nichts Zielgerichtetes wie bei Wagner, sondern das Vorläufige und daher Unvollendete wird quasi zum Prinzip erhoben. Das gilt auch für jenes Geheimnis, das zwar ständig präsent scheint, aber am Ende ungelöst bleibt und den Rezipienten wie bei Kafka vor einer Mauer stehen lässt.
Mélisande ist bei Maeterlinck kein Mitglied einer anderen – gar verfeindeten – Familie, sondern ein zufälliger Eindringling in die Königsfamilie der Allemondes. Quasi eine Trouvaille, die das feste Gefüge der Dynastie von König Arkel durcheinander bringt. Dessen Schwiegertochter Geneviève hält die Familie zusammen, die im Wesentlichen aus den beiden Söhnen Pelléas und Golaud sowie dem Enkel Yniold besteht. In diese erstarrten Verhältnisse bringt Mélisande unbeabsichtigt Bewegung, allein durch ihre Existenz. Golaud hat sie „entdeckt“ und zu einer Heirat bewegen können, doch bald verfällt sie ihrer Neigung zu Pelléas, dem Halbbruder.
Die Inszenierung von Hausherr Jens-Daniel Herzog fängt mit einer befremdlichen Idee an: Golaud fuchtelt mit einer gezogenen Pistole vor der verängstigten Mélisande herum, von der wahrlich keine Bedrohung ausgeht, und das auch noch bei den Worten „N’ayez pas peur!“. Im übrigen ist der spätere Ehegatte ein unsympathischer Kettenraucher. Schaut man auf das Libretto, so verwundert die Charakterisierung Golauds als Unhold, denn dieser Getriebene neigt eher nicht zu starken Affekten oder gar Wutausbrüchen, sondern wird erst durch die unverschuldete Konstellation später zum Mörder. Es ist eher Ratlosigkeit als Eifersucht, die ihn zum Mord treibt.
Das Bühnenbild von Mathis Neidhardt ist ebenso praktisch wie einleuchtend: ein Kubus auf der Drehbühne zeigt vier verschiedene Seiten, angefangen mit einer dunklen Fläche mit verwaschenen Strukturen, die wohl für das Abseitige, Versteckte und Rätselhafte steht. Die Hauptseite ist offen und gibt den Blick frei auf ein schmuckloses Wohnzimmer im Hause Arkel. Dessen Rückseite erinnert mit ihren Schiebetüren an japanische Architektur, ist aber vor allem den praktischen An- und Abgängen dienlich. Zusätzliche Dimensionen werden durch die Grotte im Vordergrund sowie die per Treppe erreichbare Dachfläche erschlossen.
Die Personenführung spielt geschickt mit diesen Möglichkeiten, zumal dann, wenn das Dreiecksverhältnis komplizierter wird und es um das sich Verstecken oder Auflauern geht, so in der Szene, in der sich Pelléas und Mélisande zum ersten Male näher kommen. Als König Arkel zu Tisch bittet und ebenfalls Gefallen an dem geheimnisumwobenen Mädchen findet, steigern sich die Emotionen ebenso auf der Bühne wie unten im Orchestergraben, wo Debussys feingewebte Musik zu Ausbrüchen neigt. Golaud steigert sich aufgrund des Verlustes eines Mélisande geschenkten Rings und der ungeklärten Frage nach der Vaterschaft bezüglich der erwarteten Tochter in maßlose Eifersucht.
Die sängerische Besetzung des Premierenabends demonstrierte in eindrucksvoller Weise die aktuell so außergewöhnlich guten vokalen Qualitäten an der Nürnberger Staatsoper. Samuel Hasselhorn als Pelléas, Sangmin Lee als Golaud und Taras Konoshchenko als Arkel bestechen mit ihren markanten Stimmen und wagen auch manche Dramatisierungen, die über die chronische Verhaltenheit der impressionistischen Musik hinauszugehen scheinen. Ganz anders die wunderbare Chloë Morgan, die sich Zurückhaltung auferlegte und mit ihrer leichten, schwebenden Stimme als ideale Besetzung für die Mélisande gelten muss.
Auch Nebenrollen wie die Geneviève (Helena Köhne) und der Arzt (profund: Seokjun Kim) sind ausgezeichnet besetzt. Eine Sonderrolle nimmt Oscar Nonell ein, der als Mitglied des Windsbacher Knabenchores den Yniold souverän auf die Bühne bringt. Die Staatsphilharmonie unter der Leitung von Björn Huestege zeigte viel Sinn für den impressionistischen Sound dieser Oper, aber versagte sich auch nicht den Aufwallungen, die Debussy dem an der Grand’ Opéra und Wagner geschulten Pariser Publikum gönnen musste. Fazit: eine erhellende Inszenierung, eine musikalische Glanzleistung, ungeteilter Beifall des Publikums.