Eigentlich meint man ja so landläufig, dass man gut Bescheid weiß über Zeit und Raum. Man schreitet durch ein Zimmer oder hastet durch die weite Welt - und dabei verrinnen die Stunden. Menschen bewegen sich also in Zeit und Raum. Stimmt das? Spätestens, wenn man sich mit der Philosophie Kants beschäftigt, lernt man, dass nicht wir Menschen uns in Zeit und Raum bewegen, sondern dass die beiden Gegebenheiten in uns selbst stecken. Wir bringen sie mit in die Welt, die wir mit ihrer Hilfe verstehen.
Was hat das mit Fotografie zu tun? Der große Philosoph Kant spricht vom Problem der Erkenntnis. Wodurch erlangt der Mensch Erkenntnis? Seine Erklärung: Durch Wahrnehmung, die durch Sinnlichkeit möglich gemacht wird. Anders ausgedrückt: Um die philosophische Eigenart von Zeit und Raum und vielleicht das Mysterium dieser ganzen Welt für den gesunden Menschenverstand irgendwie durchdringbar zu machen, braucht es Vehikel. Zum Beispiel Sprache, um abstrakte Begriffe greifbar zu machen - oder Bilder oder vielleicht auch Töne. Eben Dinge, die unsere Sinne ansprechen. Martin Timm liefert all dies.
Martin Timm ist ein Poet und Philosoph unter den künstlerischen Fotografen. Seine Arbeiten sind inspiriert aus Musik und Malerei der klassischen Moderne, Literatur der europäischen Antike und aus der Ästhetik ostasiatischer Kulturkreise. Im Kronacher Kunstverein zeigt er Arbeiten, in denen es um die Sehnsucht nach dem Losgelösten geht und gleichzeitig um das, was alles zu verbinden scheint: um Zeit, um Raum, um deren Sichtbarkeit und deren klangliche Gestalt. Es geht um die Erfahrbarkeit von Zeitraum und Zeitpunkt.
Um den einen Augenblick, das Hier und Jetzt, um den Zeitpunkt geht es Timm in seinen fotografierten Haikus. Ursprünglich bezeichnet Haiku ein minimalistisches Naturgedicht aus der japanischen Zen-Tradition. Die Leichtigkeit dieser Poesie-Form inspiriert Martin Timm zu einem kompletten Umdenken bei seiner Arbeit als Naturfotograf. Er bewegt sich weg von den klassisch-schönen Pflanzenfotos, die in der Naturfotografie sehr beliebt sind. Stattdessen setzt er die Motive mit der Kamera so ins Bild, wie es die Dichter der japanischen Klassik pflegten: nicht als schönen Zustand, sondern als zufälliges Geschehen. Der Moment wird zum Motiv.
Im Gegensatz dazu zeigt seine Serie „Der apokalyptische Gummibär“ Bilder, die der philosophischen Formel des „panta rhei“ folgen, die sich - stark vereinfacht - mit dem Satz „Alles bewegt sich fort und nichts bleibt“ erläutern lässt. Timm hält dabei die Metamorphose verbrannter Banalgegenstände wie Wäscheklammern, Gummibärchen oder eines Game-Boys fest. Bilder, die Veränderung zeigen, das Werden zu etwas Neuem.
Ob zerschmolzenes Handy oder die zarte, wie diahingehaucht wirkende Erinnerung an eine Landschaft - Martin Timms Fotos erzählen immer eine Geschichte, inspirieren dazu, innezuhalten, die Blickrichtung zu wechseln, tiefer zu schauen.
Die Ausstellung „Zeit und Ton“ mit Fotografien von Martin Timm ist vom 2. Juli bis 20. August 2023 im Kronacher Kunstverein zu sehen. Die Ausstellung wird am 2. Juli 2023, um 17:00 Uhr eröffnet. Der Künstler ist anwesend und wird eine Synthesizer-Performance zeigen. Der Eintritt zur Veranstaltung ist frei. Mehr Infos unter: www.kunstverein-kronach.de
Zur Person:
Martin Timm wurde 1961 in Hamburg geboren. Er absolvierte eine handwerkliche Ausbildung in Studio und Labor. Anschließend studierte er Fotoingenieurwesen. Erste berufliche Erfahrungen sammelte er im Bereich Werbe- und Architekturfotografie. Seit 1991 arbeitet Timm als freischaffender Künstler. Er ist Autor, Mitbegründer der Fotokunstakademie „WennHeldenReisen“, Dozent an verschiedenen Kunstakademien, Juror bei Wettbewerben und gibt als Coach privaten Einzelunterricht.
Mehr Infos unter: www.kunstverein-kronach.de